Merkel hält die Türkei auf Distanz
22. Juni 2018Als Angela Merkel 2005 zum ersten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, waren die unbeschwerten Zeiten im deutsch-türkischen Verhältnis schon fast vorbei. Am 3. Oktober 2005 bot die EU dem Land Beitrittsverhandlungen an – und der damalige Modernisierer und türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan nahm das Angebot dankend an.
Einen Monat später wurde Kanzlerin Merkel vom Deutschen Bundestag ins Amt gewählt. Von der deutschen Kanzlerin gab es viel Lob für die rund 100 Reformpakete mit prowestlicher Handschrift, die vom türkischen Parlament in dieser Zeit auf den Weg gebracht wurden. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die kurdische Minderheit bekam mehr Rechte in Schule und Alltag, und die Macht der Generäle in der türkischen Armee wurde gestutzt. Selbst in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit unternahm die Türkei zu Beginn der Ära Merkel gewaltige Anstrengungen, um sich europäischen Wertvorstellungen bei Menschen- und Bürgerrechten anzunähern.
Merkels Anfangsjahre und das Problem unerwiderter Liebe
Erwidert worden sei all das allerdings mit Distanz und Zurückweisung, sagt Caner Aver. Im Gespräch mit der DW erläutert der Programmleiter von der "Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung" in Essen: "Genau in der Zeit, als in der Türkei die größten Reformanstrengungen gemacht wurden, brachte Deutschland unter Kanzlerin Merkel die Idee einer privilegierten Partnerschaft als Alternative zur EU-Vollmitgliedschaft ins Spiel." Die Türkei vor der Tür der EU stehen zu lassen, wie Merkel es plante, das habe viele vor den Kopf gestoßen, die damals leidenschaftlich für eine prowestliche Türkei und den Beitritt gekämpft haben. Und es habe die Diskussion neu entfacht, ob die EU am Ende nicht doch ein "christlicher Club" sein wolle, sagt Aver.
Bei einer Rede in der Dresdner Frauenkirche im November 2006 antworte Merkel auf die Vorwürfe aus der Türkei. "Es ist wahr, Europa ist kein Christenclub." Wahr sei aber eben auch, so Merkel weiter, dass Europa ein Grundwerteclub sei. "Hier bei uns gelten Menschen- und Bürgerrechte, und die beruhen bei uns ganz wesentlich auf dem Menschenbild des Christentums."
Im März 2010 sicherte Merkel dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Erdogan zu: "Die Beitrittsverhandlungen setzen wir fort." An ihrer Vision einer strategischen, aber grundlegend anderen Beziehung zwischen der Türkei und Europa hielt Merkel unbeirrt fest. Auch in ihren weiteren Amtsjahren – bis heute.
Von der privilegierten zur Nicht-Partnerschaft
Eine Analyse der beiden Türkeiwissenschaftler Rosa Burç und Burak Çopur sieht in dieser deutschen Zurückweisung den Kern des Problems. Deutschland trage mit seiner Politik der Ausgrenzung und Distanzierung der Türkei eine Mitschuld daran, dass das Land sich inzwischen mit Macht von Europa abgewendet habe. Diese These vertreten die Autoren in einem Report des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen (CERFA). Merkels Türkeipolitik ist für die beiden Autoren damit durchgefallen. Und in der Tat: Von dem gelösten, harmonischen Miteinander, was die deutsch-türkischen Beziehungen in den Jahren der rot-grünen Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD) bis 2005 prägte, ist nicht mehr viel übrig.
Dazu hat maßgeblich aber auch die innenpolitische Radikalisierung in der Türkei beigetragen. Die Repressionswelle nach dem vereitelten Putschversuch gegen Oppositionelle, Kurden, Journalisten und Menschenrechtler, der Umbau des Staats in ein autoritär-geprägtes Präsidialsystem und fortwährende Beleidigungen und Provokationen in Richtung EU: das politische Klima zwischen Deutschland und der Türkei war noch nie so schlecht wie in den vergangenen drei Jahren.
Auch der EU-Beitrittsprozess ist zum Erliegen gekommen. Nachdem die EU-Kommission der Türkei am 10. November 2015 ein miserables Zeugnis in Sachen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit ausgestellt hatte, votierte die Mehrheit der EU-Parlamentarier für ein "Einfrieren" der Gespräche. Angela Merkel fühlte sich – ihrem öffentlichen Auftreten nach zu urteilen – in ihrer Politik der höflichen, aber bestimmten Distanzierung von der Türkei bestärkt. 35 Verhandlungskapitel liegen seitdem brach. Und der Widerstand, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei überhaupt für denkbar zu halten, ist durch Wahlerfolge rechts- und linkspopulistischer Parteien in vielen EU-Mitgliedsstaaten weiter gestiegen.
Derzeit nur auf Staatspräsident Erdogan, seine Nazi-Vergleiche und fortwährende Provokationspolitik zu schauen greife allerdings zu kurz, glaubt Andreas Maurer. Der DW erklärt der Professor für Politik und Europastudien an der Universität Innsbruck: "Auch die Vorgängerregierungen in der Türkei haben nur wenig Bereitschaft gezeigt, alle Regeln und Gesetze der Europäischen Union wirklich vollumfänglich zu akzeptieren." Der deutschen Kanzlerin dürfte es da gelegen kommen, dass sie in 13 Jahren Kanzlerschaft bisher keine festen Zusagen oder Versprechungen in Richtung Türkei gemacht hat. "Was natürlich geholfen hat, um sich weiter von der Türkei abzuwenden, ist der Umstand, dass die Türkei seit 25 Jahren ununterbrochen militärisch ohne jede völkerrechtliche Grundlage in Staaten des Südens interveniert", sagt Maurer. Und ein Staat, der Angriffskriege auf syrischem Territorium führe, könne per se kein EU-Mitglied sein. Türkeiexperte Caner Aver sieht das anders. "Die Identität der EU wird sich daran entscheiden, wie sie mit der Frage des türkischen EU-Beitritts umgeht." Bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 24. Juni, durch die Staatspräsident Erdogan seine Machtposition zementieren will, werden die Türken also auch eine Vorentscheidung über ihren möglichen EU-Beitritt treffen. Ein Ja für Präsident Erdogans Agenda würde die Kluft zwischen der EU und der Türkei weiter vertiefen. Für Angela Merkel, die seit Beginn ihrer Amtszeit auf Distanz zu Ankara gegangen ist, dürfte sich so viel also gar nicht ändern.