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Merkels erstes Townhall-Meeting

29. Februar 2012

Ungewohnte Premiere für die Kanzlerin und die Demokratie in Deutschland: In einem "Townhall-Meeting" konnten Bürger Vorschläge für ein besseres Zusammenleben machen. Die Form klappte, der Inhalt blieb vage.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (vorne, r.) sitzt im Kaisersaal in Erfurt mit Teilnehmern beim ersten Bürgerdialog über Deutschlands Zukunft (Foto: dapd)
Bild: dapd

Für einen Tag wurde am Mittwoch (29.02.2012) die thüringische Landeshauptstadt Erfurt zum Teil der Berliner Republik. Die Kanzlerin und ihr Team kamen mit dem Regierungshubschrauber angeflogen. Dutzende Hauptstadtkorrespondenten folgten ihr per Zug, der allerdings auf offener Strecke anderthalb Stunden stehenblieb. Und sogar ein Teil der Einrichtung des Reichstags hatte seinen Weg in die thüringische Landeshauptstadt gefunden - nicht wirklich, aber es sah fast so aus.

Denn im wunderschönen, barocken, weiß-goldenen Kaisersaal in der Erfurter Altstadt war ein Sitzplateau im typischen Bundestagsmausgrau aufgebaut, gepaart mit kaum lebendiger wirkenden blau-grauen Sitzunterlagen. In dieser betonten Sachlichkeit konnte sich die Kanzlerin fast wie zuhause fühlen. Allerdings, so sagte Angela Merkel gleich zu Beginn, sei heute ja ein Tag mit vertauschten Rollen: Nicht sie sage, wo es lang gehen soll, sondern die Bürger redeten und sie höre zu.

Merkel will wissen: Wie wollen die Deutschen in zehn Jahren leben?Bild: dapd

Wie wollen wir zusammenleben?

Rund 100 Bürger waren der Einladung der Kanzlerin im Rahmen ihres Zukunftsdialogs gefolgt. Die Hälfte von ihnen hatte im Internet oder in der Presse Vorschläge eingereicht oder an einem Losverfahren teilgenommen, um Angela Merkel einmal persönlich sagen zu können, was sie bewegt und wie sie sich das Zusammenleben in Deutschland in zehn Jahren vorstellen. Die andere Hälfte der Teilnehmer wurde von ehrenamtlichen Einrichtungen, Berufsverbänden, Schulen oder Vereinen delegiert.

Der Erfurter Bürgerdialog - Auftakt von insgesamt drei Veranstaltungen dieser Art - wollte ein Townhall-Meeting sein, also eine lockere Bürgerversammlung. Doch das war die 90-minütige Veranstaltung nur teilweise. Denn dafür waren die Teilnehmer - so hatte man den Eindruck - zu ausgesucht, zu repräsentativ und zu wenig aus dem so genannten einfachen Volk. Es redeten junge Abiturientinnen, Rentner, eine junge Migrantin mit Kopftuch, ein Rollstuhlfahrer, ein Mann mit dunkler Hautfarbe aus Angola. Zu Wort kamen auch ein Sparkassendirektor, Lehrer, Unternehmer und Verbandsvorsitzende. Sie alle sprachen sehr gut vorbereitet, hatten kluge Vorschläge mitgebracht und schimpften nur wenig über Probleme des Alltags - und wenn sie doch schimpften, dann mit gemäßigter Stimme und mit Ankündigung ("Ich möchte jetzt mal was Provokatives sagen...").

Ausgewählte Repräsentanten Deutschlands statt lockerer BürgerversammlungBild: dapd

Vorschläge sammeln

Für Angela Merkel war dies nicht ihr allererstes Townhall-Meeting, sie hatte schon im Wahlkampf 2009 damit experimentiert, damals aber unter anderen Vorzeichen. Und sie konnte sich als "Erklärkanzlerin" profilieren, wie der Politikwissenschaftler Gerd Langguth sie bezeichnete. Dieses Mal spielte sie eine andere Rolle.

Ihr Ziel sei es, Vorschläge für ihre Regierungsarbeit zu sammeln, sagte Merkel im Vorfeld, und sie lasse sich dabei gern ein wenig überraschen. Der Überraschungen darf es bei einem solchen offenen Dialog dann letztlich aber doch nicht zu viele geben. Deshalb wurden die Bürger vorher in Gruppen gebrieft und gebeten, die vielen Fragen zu konzentrieren. Außerdem stand ein professioneller Bürgertalk-Moderator der Kanzlerin zur Seite, der die Bürger in Stimmung brachte und dann mit aufpasste, dass die Reihenfolge der Wortmeldungen einigermaßen eingehalten wurde. Tilmann Schöberl musste allerdings recht schnell seine Moderatorenrolle wieder abgeben, weil Merkel - ganz Kanzlerin - dann doch die Regie übernahm und mit ihrem Zeigefinger festlegte: "Erst Sie, dann Sie in der dritten Reihe und dann der Mann, der mich immer schon so anlächelt - ach ja, und dann die Frau, die vielleicht was sagen will."

Eine scherzende Kanzlerin

Das wohl am häufigsten gehörte Wort an diesem Abend in Erfurt war "okay" - oft gefolgt von dem Satz: "Das nehm' ich dann mit". So reagierte Merkel auf viele der Vorschläge oder Problembeschreibungen aus dem Publikum. Dauerte der Vorschlag zu lange, brummte Merkel ein wenig, aber zustimmend. Waren manche Wortmeldungen zu ungenau, antwortete sie mit unfertigen Sätzen und wendete sich schon dem Nächsten zu. So sorgte Merkel im Ablauf des Abends für eine recht beachtliche Dynamik.

Townhallmeeting - Kanzlerin auf Kontaktsuche

04:24

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Und die Kanzlerin sorgte noch für etwas anderes - für eine insgesamt aufgelockerte Atmosphäre. Sie scherzte gleich zu Beginn, setze sich ganz ohne Scheu auf so manche blaugrauen Sitzpolster, Schulter an Schulter mit ihren Bürgern, lachte und machte den Eindruck, dass sie sich wohl fühlte. Die Kanzlerin war an diesem Abend eher die Angela Merkel aus Mecklenburg-Vorpommern und weniger die Regierungschefin aus der Metropole Berlin, die weit weg ist von den typischen Sorgen in Erfurt, einer mittelgroßen Stadt, von denen es so viele in Deutschland gibt. Merkel hatte sich bewusst dazu entschieden, mit ihrem Bürgertalk nicht in die Großstädte zu gehen, weil da die Probleme andere sind als in der so genannten Provinz.

Besorgte Bürger

Viele der Wortmeldungen drehten sich im die Frage, wie eine bessere Schule aussehen kann, welche Rolle ehrenamtliches Engagement spielt, wie es mehr Kinder im geburtenschwachen Deutschland geben kann, was gegen Rechtsradikalismus zu tun ist, wie Migranten besser integriert werden können oder wie das Leben auf dem Land zukunftssicher gemacht werden kann. Fehlende soziale Wärme, zu viel Konsum und eine ungerechte Arbeitswelt waren die Hauptkritikpunkte. Ein sogenanntes bedingungsloses Grundeinkommen wurde als Wunsch genannt oder ein Tag ohne Fernsehen und Internet, damit die Familie sich mit sich selbst beschäftigen kann.

Als keine Zeit mehr für weitere Fragen war, fasste Merkel die wichtigsten Punkte zusammen und kündigte an, alle gemachten und nicht mehr gemachten, aber fixierten Vorschläge mit in die Regierungsarbeit nach Berlin zu nehmen. Diese sollen dann auch mit 120 Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen diskutiert werden.

Zufriedene Teilnehmer

Merkel selbst hatte den Bürgertalk in Erfurt im Vorfeld als ein Experiment bezeichnet. Auch deshalb kamen so viele Journalisten, auch aus dem Ausland - sie wollten sehen, ob diese Form des Dialogs sich bewährt oder nicht. Die gefragten Teilnehmer jedenfalls waren begeistert. Merkel habe genau hingehört und den Eindruck erweckt, offen für die Probleme zu sein, sagte ein Ehepaar aus Schleiz. Ilona Taute, Lehrerin aus Weimar, sprach von Hochachtung gegenüber Frau Merkel, sie habe das super gemeistert.

Nach dem Talk gab es noch einen Empfang mit Häppchen, die Teilnehmer konnten Erinnerungsfotos mit der Kanzlerin schießen oder ihr ein kleines Präsent überreichen. Dann war irgendwann Schluss und für Angela Merkel endete der Tag mit einem Rückflug per Regierungshubschrauber nach Berlin.

Autor: Kay-Alexander Scholz
Redaktion: Frank Wörner

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