Merz' Kritik und Israels Schweigen
28. Mai 2025
Die Reaktionen lassen auf sich warten. Anfang der Woche hatte der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz sich kritisch zum Vorgehen Israels im Gazastreifen geäußert. Bis zum Mittwochnachmittag sind dazu keine Reaktionen der politischen Elite des Landes bekannt.
"Das ist eine menschliche Tragödie und eine politische Katastrophe", hatte Merz auf dem Europaforum des Westdeutschen Rundfunks in Berlin gesagt. Er verstehe "offen gestanden" nicht mehr, "mit welchem Ziel" Israel in Gaza vorgehe. Er sei sich der deutschen Geschichte bewusst und wolle Kritik angemessen äußern, so Merz weiter. Allerdings: "Wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch der Bundeskanzler etwas dazu sagen."
So deutlich wie Merz hatte sich bislang noch kein deutscher Spitzenpolitiker zum Krieg im Gazastreifen geäußert.
Umgehend reagierte auf Merz' Bemerkungen der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor. "Die Worte von Bundeskanzler Friedrich Merz haben Gewicht", erklärte er auf dem sozialen Netzwerk X. "Da er ein Freund Israels ist, nehmen wir seine Worte ernst - anders als bei denen, die Israel ständig einseitig kritisieren."
Klar sei aber auch, dass Israel nach dem 7. Oktober "keinen zweiten Hamas-Terrorstaat akzeptieren" könne, so Prosor. Und dabei gebe es ein Dilemma: "Wir sollen gleichzeitig die Geiseln retten, die Bevölkerung in Gaza versorgen und die Terroristen bekämpfen. In Gaza wurden Schulen in Waffenlager, Moscheen in Kasernen und Krankenhäuser in Kommandozentralen umgewandelt." Die Hamas, die von Israel, Deutschland und vielen weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, bestreitet das.
"Merz' Worte haben die politische Elite getroffen"
Es sei bemerkenswert, dass die israelischen Medien zwar über Merz' Äußerungen berichteten, es bislang aber vergleichsweise wenig Kommentare dazu gebe und ebenso wenig offizielle israelische Reaktionen, sagt Simon Wolfgang Fuchs, Islamwissenschaftler an der Hebräischen Universität Jerusalem. "Das dürfte zum einen damit zu tun haben, dass Friedrich Merz bei aller Kritik mit Blick auf mögliche Konsequenzen recht vage geblieben ist."
Andere europäischen Staaten hätten das israelische Vorgehen im Gazastreifen deutlicher kritisiert. "Kanzler Merz hat sich hingegen bislang sehr zurückhaltend gezeigt", so Fuchs. "Mir scheint, das derzeitige Schweigen ist ein Hinweis darauf, dass seine Bemerkungen die politische Elite durchaus getroffen haben und wie ernst man seine Worte in Jerusalem nimmt."
"Nur rechtsgerichtete Politiker haben Einfluss auf den Premier"
In diese Richtung weist auch ein Kommentar in der linksliberalen israelischen Zeitung Haaretz - eine der wenigen bislang veröffentlichten Stellungnahmen. Wenn linke Politiker Netanjahus Vorgehen im Gazastreifen kritisierten, beschuldige dieser sie meist, den Einflüsterungen antisemitischer Kräften zu erliegen, so das Blatt. Komme die Kritik aber von pro-israelischen Stimmen wie der von Friedrich Merz, antworte er kaum bis überhaupt nicht. "Wie US-Präsident Donald Trump … scheinen nur rechtsgerichtete Politiker Einfluss auf den rebellischen Premierminister zu haben, während dieser einen politisch motivierten Vernichtungskrieg gegen Gaza führt, bei dem nach Angaben der Gesundheitsbehörden des Gazastreifens täglich Dutzende Palästinenser getötet werden", schreibt Haaretz.
Diese Logik zeige sich auch in der Reaktion von Botschafter Prosor, so Haaretz weiter. "Prosor bezeichnet üblicherweise jede Kritik am jüdischen Staat als Judenhass. Seine Zurückhaltung offenbarte eine bittere Wahrheit: Israel hört nur auf seine konservativen, rechtsgerichteten Verbündeten."
"Eine neue Tonalität"
Merz' Worte dürften in Israel gehört werden, erwartet auch der Israel-Experte Peter Lintl vom Berliner Think Tank "Wissenschaft und Politik". Er verweist zudem auf den Umstand, dass die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten dafür gestimmt hat, das Assoziierungsabkommen mit Israel zu überprüfen. Es fördert zum einen die vor allem wirtschaftliche Integration des Landes in die EU, verlangt von ihm aber auch, die Menschenrechte zu achtern.
Dass dieses Abkommen nun infrage gestellt wird, habe in Israel Eindruck hinterlassen, ebenso wie die zunehmende Kritik seitens der US-Regierung und einiger Senatoren, die Israel grundsätzlich sehr freundlicher gesonnen sind. "Mir scheint, entscheidend ist dieser größere Kontext. Aber darin wird Deutschland in seiner neuen Tonalität sicherlich wahrgenommen werden."
Merz' Worte dürften in Israel auch darum Gewicht haben, weil viele Israelis sich derzeit sorgten, dass sich ihr Land durch den Krieg zunehmend isoliere, sagt Islamwissenschaftler Fuchs.
"Ich habe den Eindruck, viele Israelis fürchten, ihr Land verliere derzeit so massiv an Ansehen, dass es nicht länger als Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft angesehen werden kann. Eine Mehrheit der Israelis fühlt sich allerdings klar dem Westen zugehörig und möchte Teil davon sein und bleiben."
Haaretz: Aufforderung an deutsche Politiker
Dass die Bemerkungen von Friedrich Merz dazu beitragen könnten, den Krieg zu stoppen, sei hingegen fraglich, sagt Israel-Experte Lintl. Die grundsätzliche Frage sei, wie stark Netanjahu innerhalb seiner Koalition unter Druck steht. "Einige der Kabinettsmitglieder drängen ja darauf, dass der Gazastreifen wieder besetzt wird. Und von ihnen hängt Netanjahu politisch ab. Die Frage ist, ob sich der derzeitige Kurs wenden lässt."
Die deutschen Politiker müssten nun vor allem eines tun, schreibt Haaretz: Nämlich ihre Erklärungen unterlassen, sie seien für die Gewährleistung des Existenzrechts Israels verantwortlich. "Ihre Pflicht besteht vielmehr darin, die Art und Weise der Existenz Israels zu hinterfragen, insbesondere da diese auch auf ihrer Unterstützung beruht. Als Freund Israels muss Merz sich entscheiden, ob er nur auf Instagram viral geht oder alles in seiner Macht Stehende tut, um die grausame Tötung palästinensischer Kinder in Gaza zu verhindern, die Netanjahu offenbar nicht in absehbarer Zeit zu stoppen gedenkt."