Merz rudert im "Stadtbild"-Streit zurück - ein bisschen
24. Oktober 2025
London ist nur gut anderthalb Flugstunden von den meisten deutschen Großstädten entfernt. Dennoch: Bei seinem Besuch in der britischen Hauptstadt am Donnerstag war Bundeskanzler Friedrich Merz vermeintlich endlich mal weit weg von dem Dauerthema der letzten Tage zuhause in Deutschland: Von der Debatte über den Zustand in den Innenbezirken deutscher Städte. Ein Thema, das Merz selbst aufgebracht hatte. Mehrfach hatte er seit gut zehn Tagen erklärt, im "Stadtbild" deutscher Orte zeigten sich die Mängel der eher liberalen Einwanderungspolitik früherer Regierungen. Deshalb fühlten sich viele Menschen in den Städten nicht mehr wohl, klagten über Kriminalität, Drogenmissbrauch, Müll und Verwahrlosung.
Das "Stadtbild" in Deutschland - schlechter geworden in den letzten Jahren durch Migranten? Merz sah sich in den vergangenen Tagen heftiger Kritik ausgesetzt wegen dieser Bemerkungen, auch aus den eigenen Reihen seiner konservativen Partei CDU. Und auch vom Koalitionspartner, den Sozialdemokraten. Und von vielen tausend Menschen, die gegen die "Stadtbild"-Ansichten des Bundeskanzlers demonstrierten und weiteren Hundertausenden, die in Posts und Online-Petitionen Kritik übten.
Merz: "Wir brauchen Zuwanderung für den Arbeitsmarkt"
Und so nutzte Merz seine kurze Reise zum Westbalkan-Gipfel in der britischen Hauptstadt zu einer Klarstellung. Er sagte nach dem Treffen vor Journalisten: "Wir brauchen auch in Zukunft Einwanderung. Das gilt für Deutschland wie für alle Länder der Europäischen Union. Wir brauchen sie auch und vor allem für unsere Arbeitsmärkte. Denn schon heute sind ja viele Menschen mit Migrationshintergrund - wie wir es so ausdrücken - unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes." Deutschland könne etwa in Pflegeheimen und Universitäten gar nicht mehr auf Kräfte aus dem Ausland verzichten, fügte er hinzu.
Genau diese Klarstellung hatten viele Kritiker des Kanzlers zuletzt vermisst. Und Merz und seine Berater haben dieses Unverständnis dann doch registriert. Anders als bei seinen Äußerungen zuvor las der Kanzler sein Statement in London vom Blatt ab, wog jedes Wort ganz genau.
"Fragen Sie doch mal Ihre Töchter!"
Das war etwa am vergangenen Montag noch anders gewesen. Da hatte er auf einer Pressekonferenz in Berlin gesagt, wer nicht verstehe, was er genau meine, könne doch mal die eigenen Töchter fragen. Die würden sich mittlerweile in deutschen Innenstädten fürchten, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit. Das sagte Merz frei, ohne Manuskript.
Jetzt, in London, wiederholte er dennoch seine Kritik, dass zum schlechten Erscheinungsbild deutscher Orte vor allem bestimmte Gruppen von Migranten beitrügen: "Probleme machen uns diejenigen, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, die nicht arbeiten, und die sich auch nicht an unsere Regeln halten." Viele von diesen bestimmten auch das öffentliche Bild in deutschen Städten. Deshalb hätten mittlerweile so viele Menschen in Deutschland und in anderen Ländern der Europäischen Union einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Das, so Merz, betreffe etwa Bahnhöfe und bestimmte Parkanlagen.
Der SPD-Vizekanzler distanziert sich
Im Kern bleibt der Kanzler also bei seiner Einschätzung, die ihm auch in seinem Regierungslager viel Kritik eingebracht hat. So sagte Finanzminister Lars Klingbeil (SPD), immerhin Vize-Kanzler und damit Stellvertreter des Regierungschefs, noch am Mittwoch auf einer Gewerkschaftsveranstaltung in Hannover: Er wolle in einem Land leben, "...in dem Politik Brücken baut und die Gesellschaft zusammenführt, statt mit Sprache zu spalten". Und er fügte hinzu: "Wir müssen als Politik auch höllisch aufpassen, welche Diskussion wir anstoßen, wenn wir auf einmal wieder in wir und die unterteilen, in Menschen mit Migrationsgeschichte und ohne."
Der Demokratieforscher der Universität in Leipzig, Oliver Decker, analysiert es ähnlich. Er sieht in den Bemerkungen von Merz keinen Ausrutscher, sondern ein bewusstes Manöver. "Herr Merz bewegt sich mit Absicht an einer Grenzlinie", sagte Decker der Deutschen Presse-Agentur dpa. Der Kanzler spreche bestimmte Ressentiments selbst nicht offen aus, "...aber er weiß, dass die Hinweise verstanden werden und er damit gleichzeitig die Ressentiments bedient, ohne den Teil der CDU vor den Kopf zu stoßen, die sie nicht teilen".
Geht es Merz also darum, widerstreitende Flügel in seiner konservativen Partei zu bedienen und zusammenzuführen?
Soziologe Kubiak: "Asylpolitik ist nicht so leicht umsetzbar"
Klar ist auf jeden Fall: Merz hat die in Teilen rechtsextreme "Alternative für Deutschland" (AfD) bei den anstehenden fünf Landtagswahlen im kommenden Jahr zum Hauptgegner erklärt. Er will mit seinen migrations-kritischen Bemerkungen offensichtlich bisherige AfD-Wähler ansprechen. Aber er stößt damit anderen Gruppen in der Gesellschaft vor den Kopf.
Dass Merz im Moment eher trennt als Brücken baut, sieht auch der Soziologe Daniel Kubiak von der "Humboldt Universität Berlin" so. Er sagte der DW: "Diese Aussage ist eher spalterisch und sorgt eher dafür, dass Unsicherheit in öffentlichen Räumen entsteht. Und die eigentliche Frage, um die es ihm geht, nämlich um die sozusagen stärkere Rückführung von MigrantInnen, wird gar nicht so leicht umzusetzend sein, wie er versucht darzustellen."
Im ersten Halbjahr 2025 hat Deutschland rund 11.000 irreguläre Migranten in ihre Heimatländer abgeschoben, im vergangenen Jahr waren es insgesamt rund 20.000. Eine große Steigerung ist also bislang nicht erkennbar.
Umfrage: Unterstützung für Merz
Fürs Erste hat sich die Debatte um das "Stadtbild" beruhigt. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass eine Mehrheit der Deutschen dem Kanzler recht gibt. Im "ZDF-Politbarometer", das die "Forschungsgruppe Wahlen" erstellt und das am Freitag veröffentlicht wurde, gaben 63 Prozent der Befragten an, dass sie Merz grundsätzlich zustimmen würden. 33 Prozent der Befragten fühlen sich tatsächlich im öffentlichen Raum unsicher; 66 Prozent nicht. Deutlich mehr Frauen als Männer fühlen eine Unsicherheit, und mehr ältere als jüngere Menschen machen sich Sorgen um das "Stadtbild".
Zu denjenigen, die die Äußerungen des Kanzlers begrüßten, zählt etwa Sachsen Ministerpräsident Michael Kretschmer, ebenfalls CDU. Er hatte während der aufgeregten Debatte gesagt, die hohe Anzahl von nach 2015 nach Deutschland Geflüchteten sei ein "...großer Brandbeschleuniger für die AfD". Inzwischen gehe Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) "unglaublich kraftvoll" voran und löse die Dinge.
Am nächsten Dienstag werden Kretschmer und Merz sicher noch einmal auf die "Stadtbild"-Debatte angesprochen. Dann nämlich besucht der Kanzler das ostdeutsche Bundesland und trifft dabei auch den sächsischen CDU-Regierungschef.