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KriminalitätDeutschland

Messerattacken, AfD und die Rolle der Medien

16. Juli 2023

Wenn Menschen erstochen werden, mutmaßlich von einem Flüchtling, dann passt das ins Konzept von Populisten, um Stimmung gegen Migranten zu machen.

Einsatzkräfte der Polizei und Rettungsdienste sind mit ihren Fahrzeugen nach einer Messerattacke in einem Regionalzug am Bahnhof Brokstedt eingetroffen, um sich um die Opfer zu kümmern.
Rettungswagen am Bahnhof Brokstedt nach der Messerattacke in einem Regionalzug zwischen Kiel und HamburgBild: Jonas Walzberg/dpa/picture alliance

25. Januar 2023: In einem Regionalzug zwischen Hamburg und Kiel sticht ein Mann auf sieben Fahrgäste ein, zwei werden tödlich verletzt. Der mutmaßliche Täter, ein staatenloser Palästinenser, muss sich vor Gericht für die ihm zur Last gelegten Taten verantworten. Am 17. Juli sollen die ersten Zeugen vernommen werden. Aber halt! Darf die Herkunft des Angeklagten hier überhaupt erwähnt werden?

Der Deutsche Presserat, das ist die Freiwillige Selbstkontrolle der Printmedien und ihrer Online-Auftritte, empfiehlt in seinem Verhaltenskodex, in der Regel darauf zu verzichten: "In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt."

Wann besteht ein öffentliches Interesse an der Nationalität?

Nur wenn ein begründetes öffentliches Interesse an der Herkunft bestehe, hält der Presserat Ausnahmen für gerechtfertigt. Wann das der Fall ist, interpretieren Medien allerdings sehr unterschiedlich. Wie sich das auf die Berichterstattung in reichweitenstarken TV-Sendern und Printmedien samt Online-Angeboten auswirkt, untersucht der frühere Journalist Thomas Hestermann schon seit 2007.

Messerangriff in Lübeck

01:21

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Für den Mediendienst Integration hat der Wissenschaftler von der Hamburger Macromedia-Hochschule eine aktuelle Studie zur Berichterstattung über Gewaltkriminalität mit dem Schwerpunkt Messerattacken erstellt. Zwischen Januar und April analysierten Hestermann und sein Team 645 Beiträge, 81 mal war die Tatwaffe ein Messer. In 26 Fällen wurde die ausländische Herkunft der tatverdächtigen Person erwähnt, nur einmal die deutsche.

Die Folgen der Kölner Silvesternacht 2015/16

Ein Blick zurück belegt, wie gravierend sich die Betonung der Nationalität verändert hat: "2014 spielte die Herkunft von Tatverdächtigen in der TV-Berichterstattung über Gewaltkriminalität praktisch keine Rolle", heißt es dazu in Hestermanns Expertise. Nur in 4,8 Prozent der untersuchten Fernsehbeiträge sei sie ersichtlich gewesen.

Geändert habe sich das nach der Silvesternacht im Jahr 2015/16, als es am Hauptbahnhof in Köln zu Hunderten von Straftaten vor allem junger Männer aus Nordafrika gekommen sei. Demnach erhöhte sich in TV-Beiträgen der Anteil mit Herkunftsnennung bis 2019 auf 31,4 Prozent. Hestermanns Erklärung für diesen Trend: "Gewaltdelikte zeichnen eine Fieberkurve der Gesellschaft. Und diese Fieberkurve geht gerade steil hoch."

Angstfigur der AfD: "Messer-Migranten"

Besonders im Fokus: Messerattacken. Eine Form von Gewaltkriminalität, die in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Kreisen offenkundig für ihre Zwecke instrumentalisiert wird: "Rechtspopulisten, vor allem die Alternative für Deutschland (AfD), haben den sogenannten Messer-Migranten als Angstfigur entdeckt", beschreibt Hestermann dieses Phänomen.

Beispielhaft verweist der Medienwissenschaftler auf die AfD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Alice Weidel. Sie habe im Parlament von "alimentierten Messer-Männern" gesprochen. Auf Twitter-Accounts der Partei kann man solche Sätze lesen: "Die Messer-Epidemie grassiert." Und dieses Bild sickere via Medien in das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung ein, meint Hestermann. Das verspreche Aufmerksamkeit und starke Emotionen.

Berliner Polizei nennt die Herkunft nur auf Nachfrage

Zu dieser Einschätzung passen die Erfahrungen der Berliner Polizei. Deren Pressesprecherin Beate Ostertag betont zunächst, dass in Veröffentlichungen ihrer Behörde in der Regel auf die Nennung der Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen verzichtet werde. Das ändere sich aber, wenn Medien oder Parlamentarier gezielt nachfragten. Dann sei man von Ausnahmefällen abgesehen gesetzlich verpflichtet, Auskünfte zu erteilen. 

Tatort Schule: Im Berliner Bezirk Neukölln stach ein Mann im Mai 2023 auf zwei Mädchen ein und verletzte sie schwerBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

So erfährt die AfD Vornamen von Tatverdächtigen und zusätzlich statistische Angaben. Was anschließend damit passiert, liegt nicht mehr in den Händen der Polizei. Medien würden die entsprechenden Daten häufig übernehmen, weiß Beate Ostertag aus ihrer täglichen Arbeit. "Und das ist für uns schwierig, weil es wichtig ist, diese Zahlen einzubetten ins Gesamtgefüge."

Die meisten Namen tatverdächtiger Männer klingen deutsch

Wie schwierig es ist, aus Statistiken vermeintlich eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen, illustriert die Polizei-Pressesprecherin anhand von Zahlen und den Vornamen tatverdächtiger Männer in Berlin: Im Jahr 2021 habe der Anteil von Deutschen unter 50 Prozent gelegen. Aber ein Blick auf die am meisten vorkommenden Namen könnte eine andere Vermutung nahelegen: "Alexander, Christian, David, auf Platz vier folgt dann Mustafa, dann kommt Patrick, Daniel, dann kommt Bilal, dann kommen wieder weitere deutsche Vornamen." Im Jahr 2022 habe es ähnlich ausgesehen, sagt Beate Ostertag. Die Zahlen in Berlin unterscheiden sich von denen in anderen Bundesländern. So lag der Anteil tatverdächtiger Ausländer bei Delikten mit Messern in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2021 bei 42,6 Prozent.

Polizei-Pressesprecherin Ostertag betont: "Das Ganze gibt überhaupt keinen Aufschluss darüber, was die Tathintergründe sind." Die AfD blendet diesen Faktor jedoch aus, wie Thomas Hestermann in seiner Analyse festgestellt hat: "In den Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland zu Straftaten in Deutschland sind 95 Prozent aller Tatverdächtigen, deren Herkunft genannt wird, ausländisch."

Leitmedien übernehmen rechtspopulistische Rhetorik

Das Fazit des Medienwissenschaftlers ist zwiespältig: Begriffe wie "Messer-Migranten" fand er in den untersuchten Berichten nicht. "Doch es sind die rechtspopulistischen Auswahlmuster, die vielfach in Leitmedien übernommen werden." Hestermann erklärt sich das mit dem hohen Auflagen- und Quotendruck vor allem privatwirtschaftlicher Medien.

Deshalb richteten sie sich auch nach dem "vermuteten Publikumsinteresse". Als ehemaliger Journalist ist ihm dieser Reflex sehr vertraut. Seine Warnung an die früheren Kolleginnen und Kollegen: Wer in Deutschland lebende Menschen ausländischer Herkunft pauschal als Risikofaktoren beschreibe, "schürt irrationale Ängste". 

Dieser Artikel wurde aktualisiert.

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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