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PolitikMexiko

Mexiko baut auf eigenen Impfstoff "Patria"

30. April 2021

Mexiko will bis zum Ende des Jahres als zweites Land in Lateinamerika nach Kuba einen Corona-Impfstoff entwickeln. Hoffnungsschimmer oder nur Propaganda?

 Mexiko Coronavirus Impfung Andres Manuel Lopez Obrador
Präsident Andrés Manuel López Obrador bei seiner Impfung Anfang April in Mexiko-StadtBild: Prenza Amlo/dpa/picture alliance

Ramón López Velarde war nicht nur irgendein Dichter, in seiner Heimat gilt er als Ikone und Poet der Nation. Sein Meisterwerk: "La suave Patria", "Das sanfte Vaterland". Am 19.Juni gedenkt Mexiko López Velarde anlässlich seines 100. Todestages.

Man muss das alles wissen, um zu verstehen, warum der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador die neue Impfstoffhoffnung 'Patria' getauft hat. Es ging wohl einfach keine Nummer kleiner, der Name des Vakzins sei, so "AMLO", eine Referenz an den großen Dichter, "das Vaterland sei schließlich alles."

Ob Ramón López Velarde damit einverstanden gewesen wäre, mit seinem Namen für einen Impfstoff herzuhalten, von dem man bislang noch überhaupt nicht weiß, ob er wirklich die Probleme des Vaterlandes lösen kann?

Die Botschaft ist jedenfalls eindeutig: Mexiko, mit 216.000 Corona-Toten das Land mit den drittmeisten Sterbefällen weltweit nach den USA und Brasilien, nimmt sein Schicksal jetzt in die eigene Hand. Testphase 1 für 'Patria' ist eingeläutet, 100 Freiwillige zwischen 18 und 55 Jahren aus Mexiko-Stadt lassen sich gerade einen Pieks geben, schließlich ist Eile geboten.

Bis Ende des Jahres sollen Millionen der kostengünstigen Ampullen zur Verfügung stehen, das anerkannte Labor Avimex erhält dafür siebeneinhalb Millionen Dollar an staatlichen Fördermitteln. Wird das 1952 gegründete Unternehmen also zum lateinamerikanischen BionTech in der Impfstoffentwicklung?

Impfkampagne kommt in Mexiko nicht richtig voran

Xavier Tello ist da skeptisch. Der Chirurg und Gesundheitsexperte fragt sich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es 'Patria' wirklich bis zur Zulassung schafft: "Wir haben in Mexiko noch nie einen Impfstoff entwickelt, bei dem wir bei Null angefangen haben", sagt Tello, "und selbst wenn alles glatt läuft, denke ich nicht, dass 'Patria' vor Anfang 2022 zur Verfügung steht. Der Impfstoff wird kein Ausweg aus der Pandemie in Mexiko sein."

"Ein 'Mea Culpa' zum Beispiel für die vielen Toten beim Gesundheitspersonal wird man hier niemals hören" - Xavier TelloBild: Xavier Tello

Avimex und die mexikanische Regierung wollen Tello Lügen strafen. Testphase 2 des Impfstoffs ist für Juni und Juli geplant, die dritte und entscheidende Prüfung soll zwischen August und Oktober stattfinden. Die Nachricht fällt in eine Zeit, in der die Regierung um Präsident López Obrador wegen ihres Corona-Krisenmanagements massiv in der Kritik steht.

Die vielen Toten sind das eine, der Impfprozess das andere. Obwohl Mexiko das erste Land Lateinamerikas war, das Weihnachten des vergangenen Jahres mit den Impfungen begann, kommt das Land bei der Immunisierung nicht richtig vom Fleck - auch weil schlichtweg nicht genügend Impfstoff da ist.

Immer noch hängt das Land bei der Priorisierungsgruppe 2 fest, impft bislang nur Gesundheitspersonal und Menschen über 60 Jahre. Immerhin können sich jetzt auch die 50- bis 59-Jährigen für den Pieks anmelden. 17 Millionen Dosen wurden bisher verimpft, bei 130 Millionen Einwohnern läuft Mexiko weit den eigenen hohen Ansprüchen hinterher.

Mogelpackung "100 Prozent Mexiko"

Und jetzt soll also der eigene Impfstoff das Ruder herumreißen? Für Julio Frenk, der früher im Gesundheitsministerium gearbeitet hat, und Octavio Gómez-Dantés, Forscher in der nationalen Gesundheitsbehörde, ist dies mehr als eine unerwartete Wendung. Sie kritisieren in der "Washington Post" "eine Regierung, die Gelder in der wissenschaftlichen Forschung zusammengestrichen, das nationale Impfprogramm vernachlässigt und die Forscher stigmatisiert hat."

Warten auf den Pieks in Mexiko-Stadt: Zuerst ist die ältere Bevölkerung an der ReiheBild: Gerardo Vieyra/NurPhoto/picture alliance

Die Ankündigung komme just zu einem Zeitpunkt, da das Scheitern der mexikanischen Corona-Strategie offensichtlich sei, und stehe daher sinnbildlich für die letzte Patrone in der Pandemie-Bekämpfung. "Es passt nicht zusammen, dass die Regierung jetzt plötzlich den riesigen Wert der Wissenschaft wiederentdeckt, die Impfung glorifiziert und dafür wirbt, auf diesem Feld die nationale Souveränität zurückzuerlangen."

Die Kritiker stören sich auch daran, dass der Präsident den Impfstoff als "100 Prozent mexikanisch" anpries, obwohl die Technologie in New York entwickelt wurde. Avimex musste die vollmundige Erklärung des Präsidenten mit einer Pressemitteilung zurechtrücken.

"Natürlich ist das auch Propaganda, indem man dem Projekt einen nationalen Geist einhaucht", sagt Xavier Tello, "zwar kann der Impfstoff für Mexiko einen enormen Nutzen haben, wenn alles funktioniert, aber es gibt keinen Grund, deswegen nationalistische Töne anzuschlagen."

'Patria' und die Fehler der Vergangenheit

Derzeit werden Mexikanerinnen und Mexikaner mit fünf verschiedenen Vakzinen geimpft: BioNTech/Pfizer, AstraZeneca, die chinesischen Impfstoffe Sinovac und CanSino sowie Sputnik V. Ab Mitte Juni soll auch ein Werk in Mexiko den russischen Impfstoff abfüllen. 'Patria' könnte somit Vakzin Nummer Sechs sein, Mexiko wäre damit nach Kuba das zweite lateinamerikanische Land, das seinen Impfstoff auch selbst produziert.

"'Patria' ist ein Anfang, aber die Impfung ist trotz allem nicht die magische Lösung für alles" - Roselyn Lemus-MartínBild: Privat

"'Patria' ist auf jeden Fall ein Signal der Regierung, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat, zu wenig in Wissenschaft in Technologie zu investieren", sagt die Ärztin für Zell- und Molekularbiologie Roselyn Lemus-Martín, "bisher stand die Impfung in der Prioritätenliste der Regierung leider nicht ganz oben."

Lemus-Martin fordert, 'Patria' müsse gleichzeitig der Startschuss für ein breit angelegtes Investitionsprogramm in Mexiko sein: "Wir hinken auch bei den Impfungen für Kinder gegen andere Krankheiten oder bei den Medikamenten weit zurück." Dies wäre sicherlich ganz im Sinne von Ramón López Velarde. Der Dichter wurde gerade einmal 33 Jahre alt. Er starb, bittere Ironie, an einer Lungenentzündung. 

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