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Politik

Staatsziel Glück statt Wirtschaftswachstum?

6. Juni 2020

Mexiko folgt Ländern wie Finnland und Bhutan und will Entwicklung und Fortschritt fortan nicht mehr rein ökonomisch messen. Experten sehen das mit gemischten Gefühlen.

Präsident Andres Manuel Lopez Obrado verspricht Gelder für Brauerei
Mexikos Präsident Andres Manuel Lopez Obrador will Glücksindex einführenBild: Imago/J. Mendez

Puebla. Jährlich 4 Prozent Wirtschaftswachstum war die Ziellatte, die sich Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador im Wahlkampf selbst gesetzt hat. In seinem ersten Amtsjahr 2019 war es stattdessen eine Stagnation, und wegen der Pandemie prognostizieren Wirtschaftsexperten dieses Jahr eine Schrumpfung zwischen vier und zehn Prozent. Mitten in der Corona-Krise zauberte der Staatschef jetzt die Idee aus dem Hut, Mexikos Fortschritt fortan nicht mehr am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu messen, sondern mit einem neuen Zufriedenheits- oder Glücksindex.

Neu sind solche Gedanken nicht. "Aber dass Mexiko die Idee ausgerechnet in einem Moment der Wirtschaftskrise aufgreift, ist kein Zufall", räumt der Ökonom Ignacio Martínez Cortes gegenüber der DW ein. Kritiker sehen darin ein Ablenkungsmanöver, Befürworter wie Martínez applaudieren, dass sich mit Mexiko nun auch ein lateinamerikanisches Land einreiht in die Avantgarde derjenigen, die - wie Finnland, Neuseeland oder Bhutan - dem zahlenfixierten Ökonomismus eine Absage erteilen. "Das Bruttoinlandsprodukt misst nur die Produktion von Waren und Dienstleistungen in einem bestimmten Zeitraum. Es sagt nichts aus über deren Verteilung oder die Umweltkosten, und misst nicht Dinge wie die Hausarbeit oder wenn Menschen zuhause selbst kochen, statt ins Restaurant zu gehen", erklärt der ökonomische Vordenker des "Guten Lebens", der Ecuadorianer Alberto Acosta der DW.

Glücksindex statt BIP?

Anders sieht das Gabriela Siller: "Es ist nicht ratsam, auf das BIP zu verzichten, weil es zusammen mit der Arbeitslosigkeit und der Inflationsrate der wichtigste makroökonomische Indikator ist", gibt die Wirtschaftsanalystin der Finanzgruppe Banco Base zu bedenken. "Gerade in der Krise brauchen wir verlässliche Wirtschaftsstatistiken", twitterte auch der Vizedirektor der Zentralbank, Jonathan Heath, für den das BIP deshalb unverzichtbar ist.

Glück und Zufriedenheit - ein neuer Weg, die Entwicklung eines Landes zu messen?Bild: picture alliance/dpa/C. Seidel

Von der Abschaffung des BIP ist laut Martínez nicht die Rede. Der Wirtschaftsprofessor vom Labor für Handels-und Wirtschaftsanalyse der staatlichen Autonomen Universität (Unam) sitzt in dem Expertenkomitee, das mit der Ausarbeitung des neuen Index befasst ist. "Das Einkommen ist wichtig, auch für das subjektive Glücksempfinden, aber wir müssen es ergänzen durch andere, beispielsweise regionale, Komponenten."

Alternativen, die Entwicklung eines Landes zu messen, gibt es einige. Der bekannteste ist der Index der menschlichen Entwicklung (HDI) des UN-Entwicklungsprogramms. Er wurde unter Mitwirkung des indischen Ökonomen Amartya Sen entwickelt und berücksichtigt auch Lebenserwartung, Schulbildung und Ungleichheit. In ihm belegte Mexiko zuletzt Rang 76 von 188 - Tendenz fallend. Luis Mauricio Torres wundert das nicht: "Mexiko schneidet weder beim Transparenz-Index, noch beim Pisa-Test, der die Bildungsqualität misst, noch bei der Rechtsstaatlichkeit international gut ab", gab der Ökonom vom Institut für Wettbewerbsfähigkeit (Imco) zu bedenken.

Debatte um Indizes nicht zielführend

Auch Mexikos Statistikbehörde Inegi erfasst seit einigen Jahren das Wohlergehen der Bevölkerung. Doch dies beruht - wie auch der Glücksindex, den Bhutan in Volksbefragungen misst - auf Umfragen. Trotz ausgefeilter Fragemethoden bleiben diese subjektiv. Bei der letzten Glücksmessung des Happy-Planet-Index beispielsweise landete Mexiko weltweit auf Platz zwei. Für Martínez kein Wunder, denn die Umfrage fand statt, kurz nachdem Mexiko bei der Fußball-WM Deutschland ein Unentschieden abgerungen hatte.

Für Acosta ist die Debatte um die Indizes ohnehin nicht zielführend. "Ein Index allein ist wertlos ohne den politischen Willen zu Reformen", sagt der ehemalige Energieminister Ecuadors. "In Bolivien und Ecuador wurde das Gute Leben zwar in die Verfassung geschrieben, aber letztlich wollten die Präsidenten keine strukturellen Veränderungen des Kapitalismus, sondern nur an der Macht bleiben. Ich fürchte, das ist in Mexiko auch nicht anders."

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