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Politik

MH17-Urteil: Was man über den Strafprozess wissen muss

Mikhail Bushuev
16. November 2022

Mehr als acht Jahre nach dem Abschuss einer Malaysia Airlines Boeing mit der Flugnummer MH17 über der Ostukraine kommt das Hauptverfahren gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen zum Abschluss.

Trümmerfeld an der MH17-Absturzstelle (17.07.2014)
MH17-AbsturzstelleBild: picture-alliance/dpa/Z. Dzhavakhadze

Am 17. November soll ein Gericht in Den Haag das Urteil gegen vier Angeklagte aus Russland und der Ukraine im Strafprozess zum Absturz des zivilen Flugzeugs MH17 verkünden - mehr als acht Jahre nach der Katastrophe vom 17. Juli 2014. Eine Boeing 777 der Malaysia Airlines (MH17), die in Amsterdam-Schiphol Richtung Kuala Lumpur gestartet war, stürzte an diesem Tag über dem Donbass im Osten der Ukraine ab. Keiner der 298 Menschen an Bord überlebte. Ein internationales Ermittlungsteam kam zu dem Ergebnis, dass die Maschine vom Boden abgeschossen wurde. Bis heute hat niemand die Verantwortung dafür übernommen. 

Mehrere Länder haben ein internationales Tribunal zu dem Abschuss gefordert. Der Fall schaffte es nicht vor ein UN-Gericht, weil Russland mit seinem Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Initiative blockierte. Die niederländische Regierung entschied sich daraufhin für ein Verfahren nach nationalem Recht, da 193 von 298 Opfern aus den Niederlanden stammen. 

Die Spur führt nach Russland

Nach der Katastrophe bildeten die fünf am stärksten betroffenen Länder - Australien, Belgien, die Niederlande, Malaysia und die Ukraine - eine gemeinsame Ermittlergruppe (Joint Investigation Team, JIT). Sie kommt zum Schluss, dass die Boeing 777 um 16.20 Uhr Ortszeit von einer Flugabwehrrakete des sowjetischen Typs "Buk" getroffen wurde. Diese sei aus dem Teil des Donbass abgeschossen worden, der von den pro-russischen Separatisten kontrolliert wird. Das "Buk"-Raketensystem sei aus Russland dorthin gebracht und kurze Zeit nach dem Absturz wieder zurück über die Grenze transportiert worden, so die JIT-Experten.

Die Basis für die Ermittlungsergebnisse bilden laut JIT Aussagen von Zeugen, die den Raketenstart beobachten haben wollen, Überreste der Passagiermaschine und der "Buk"-Rakete, Satellitenbilder und Radardaten sowie Foto- und Videoaufnahmen vom Transport des russischen Raketensystems zu dem Ort im Donbass, wo es mutmaßlich abgefeuert wurde. Außerdem liegen Mitschnitte von Telefonaten zwischen den Verdächtigen vor, die vom JIT teilweise veröffentlicht wurden.

Die Hauptangeklagten

Die internationalen Ermittler haben bisher vier Hauptverdächtige benannt. Drei davon sind Russen: Igor Girkin (Spitzname "Strelkow"), einstiger "Verteidigungsminister" der selbsternannten "Volksrepublik Donezk", Generalmajor Sergej Dubinskyj (Spitzname: der "Düstere") und Oberst Oleg Pulatow ("Levanteotter"). Der vierte Verdächtige ist der Ukrainer Leonid Chartschenko ("Maulwurf"). Alle vier bestreiten ihre Schuld.  Girkin, einer der führenden Politiker im Donbass in jener Zeit, blieb auch nach seinem Rückzug aus dem Kampfgebiet in der Öffentlichkeit. In einem seiner Interviews sagte er, er verspüre "moralische Verantwortung" für den Tod der Flugzeuginsassen. 

Igor Girkin ("Strelkow") - einer der Hauptverdächtigen im Fall MH17Bild: picture-alliance/dpa/Photomig

Außerdem verdächtigen die Ermittler Wladimir Zemach, Ex-Kommandeur einer Flugabwehr-Einheit der Separatisten im ostukrainischen Ort Snischne. Er wurde allerdings in einem Gefangenenumtausch an Russland übergeben. Die Ermittler schlossen weitere Anklagen explizit nicht aus. Diese könnten unter anderem die namentlich nicht genannten Besatzungsmitglieder des "Buk"-Raketensystems sowie der Oberkommandierende der russischen 53. Luftabwehr-Brigade sein, der jene Besatzung befehligte.

Dass einer der mutmaßlich Verantwortlichen im Gerichtssaal erscheint, gilt als unwahrscheinlich. Russland weist seine Bürger nicht aus, der Ukrainer Chartschenko könnte womöglich auch einen russischen Pass bekommen haben. Sein Schicksal und Aufenthaltsort blieben nach der Festnahme in der von Russland kontrollierten ukrainischen Stadt Donezk im März 2020 unbekannt. Igor Girkin hingegen versucht derzeit eigenen Angaben zufolge erneut als Freischärler gegen die ukrainische Armee zu kämpfen. Für die Ergreifung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers sollen in der Ukraine bereits über 100.000 US-Dollar ausgelobt worden sein. 

Der Prozessbeginn und das Hauptverfahren

Das Verfahren im Fall MH17 übernahmen die Richter des zuständigen Gerichts in Den Haag. Der Prozess begann am 9. März 2020. Aufgrund des öffentlichen Interesses finden die Anhörungen im Justizkomplex von Schiphol statt, in der Nähe des gleichnamigen Flughafens. Die Sitzungen werden live im Internet übertragen - auch das Urteil.

Die Anklagebank bleibt zwar leer, doch einer der Angeklagten, Oleg Pulatow, wird im Gericht von Anwälten vertreten. Er selbst hatte mitteilen lassen, dass er nicht für den MH17-Absturz verantwortlich gewesen sei. Allerdings belasten die in den niederländischen Medien veröffentlichten Mitschnitte der Telefongespräche zwischen den Angeklagten ihn und andere schwer.

Justizkomplex von Schiphol: Russisches Veto gegen Verhandlung vor UN-GerichtBild: AFP/R. de Waal

Es wird erwartet, dass das Gericht in Den Haag die Angeklagten für schuldig befindet. Die Anklage präsentierte im Hauptverfahren zahlreiche Belege für deren Beteiligung am Transport des russischen BUK-Raketensystems in die Ukraine und zurück nach Russland sowie am Einsatz der Tatwaffe.

Der Kreml bestreitet seine Beteiligung am MH17-Abschuss und hat in den vergangenen Jahren, auch mit Hilfe von staatlichen Medien, mehrere widersprüchliche Versionen darüber verbreitet, wie es zum Absturz von MH17 gekommen haben soll. Nur teilweise hat die russische Propaganda ihre Behauptungen später revidiert und als "Fehler" bezeichnet.

Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Der Strafprozess, der jetzt in Schiphol zu Ende geht, ist die größte, aber nicht die einzige juristische Auseinandersetzung im Fall MH17. So wurden zwei Sammelklagen im Namen von 380 Angehörigen von Opfern des MH17-Abschusses beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingereicht.

Bergung der Wrackteile von Flug MH17 in der Ostukraine, 16.11.2014 Bild: Reuters/Maxim Zmeyev

Die Kläger werfen Russland vor, das Recht der Opfer auf Leben verletzt zu haben. Eine der Klagen bereitete der US-Anwalt Jerry Skinner vor, der sich einen Namen im Lockerbie-Prozess gemacht hat. Die Kläger verlangen von Russland Entschädigungen in Höhe von mindestens 6,4 Millionen Euro pro verstorbenen Passagier. Auch die niederländische Regierung brachte den Absturz der Passagiermaschine im Juli 2020 vor den EGMR. Dass Russland im März 2022 den Europarat verlassen hat und somit nun außerhalb der Gerichtsbarkeit des EGMR ist, spielt für die bereits laufenden Verfahren keine Rolle. Außerdem präsentierten Australien und die Niederlande im März 2022 eine gemeinsame Klage bei der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO gegen Russland. Das Verfahren dort ist nicht öffentlich und soll noch mehrere Jahre dauern.

Vier Angehörige von MH17-Opfer klagen vor dem EGMR aber auch gegen die Ukraine. Aus ihrer Sicht tragen die ukrainischen Behörden eine Mitschuld am Tod von Passagieren und Crew, weil die Flugrouten über dem Konfliktgebiet im Osten der Ukraine nicht vollständig gesperrt waren. Tatsächlich gab es über dem Konfliktgebiet am Tag der Tragödie eine Sperrung, aber nur bis zu einer Höhe von 8000 Metern. Russland hingegen hatte seinen Luftraum im Grenzgebiet zur Ukraine bis auf 16 Kilometer Höhe gesperrt - und zwar nur wenige Stunden vor dem MH17-Absturz. Diese Höhe gilt als maximale Reichweite für BUK-Raketen. Diese Maßnahme gilt als ein indirektes Indiz der russischen Beteiligung.

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