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Friedman über Schindler: "Steh auf, tu es"

Klaus Krämer
30. Januar 2019

Michel Friedmans Eltern standen auf Oskar Schindlers Liste und überlebten deshalb den Holocaust. Heute, so der Jurist, Politiker, Publizist und DW-Moderator, brauche Deutschland mehr "Schindler-Haltung".

Oskar Schindlers Liste und ein Foto von ihm
Bild: picture-alliance/dpa

Holocaust-Gedenken

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Der 27. Januar markiert den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Im Jahr 2005 wurde dieser Gedenktag von den Vereinten Nationen eingeführt, denn am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. In den zurückliegenden Tagen wurde an vielen Orten auf der Welt an die brutale und fabrikmäßige Vernichtung der Juden Europas erinnert. An diesem Donnerstag (31.01.) gedenkt der Deutsche Bundestag in einer Sonderveranstaltung der Opfer des Nationalsozialismus.

Ein Mosaikstein im Bemühen, das Unfassbare nicht ins Vergessen abgleiten zu lassen, war auch die Wiederaufführung des Film-Epos "Schindlers Liste" am vergangenen Sonntag in deutschen Kinos - 25 Jahre nach der Premiere. Regisseur Steven Spielberg erzählt in dem vielfach ausgezeichneten Film die wahre Geschichte des Unternehmers Oskar Schindler (1908-1974), der mehr als 1100 Juden vor dem sicheren Tod durch die Nazis rettete. Er erstellte eine Liste mit Namen von Häftlingen, die er für die Produktion in seiner Fabrik benötigte (s. Titelbild).

Zu diesen Geretteten gehörten auch die Eltern von Michel Friedman. Fast die gesamte polnisch-jüdische Familie des Juristen, Politikers, Publizisten und Fernsehmoderators überlebte den Holocaust nicht. Wenn sich Michel Friedman an Oskar Schindler erinnert, dann hat das für ihn auch Gewicht für die deutsche Gesellschaft im Jahr 2019.

DW: Herr Friedman, hätte Oskar Schindler Ihre Eltern nicht gerettet, würde es auch Sie nicht geben. Sie haben Schindler als Kind und Jugendlicher erlebt, weil er bis zu seinem Lebensende ein enger Freund Ihrer Familie blieb. Was empfinden Sie, wenn Sie an ihn denken?

Michel FriedmanBild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Michel Friedman: Dankbarkeit. Wie sie gerade sagten, hat mein Leben mit seinem Engagement, seinem Einsatz zu tun. Er rettete meine Eltern und meine Großmutter. Stolz, dass ich diesen Mann kennen durfte. Ich habe viel von ihm gelernt. Das Wichtigste, was ich von ihm gelernt habe, ist: "Es gibt keine Entschuldigung, nicht zu handeln, sich nicht einzumischen." Und ich empfinde für ihn auch eine große Portion Liebe. Er ist einer meiner Herzensmenschen, weil er so vielschichtig und nicht nur ein Held war, weil er nicht nur das große Vorbild war, sondern weil es da auch Schattenseiten gab. Einem Kind und Jugendlichen tut es gut, wenn jemand, den man liebt, nicht nur gut und perfekt ist.

Sie haben es angedeutet - Oskar Schindler war nicht gerade ein Ausbund an Moral und Anstand. Er galt als Frauenheld, genoss mehr als reichlich Alkohol. Außerdem war er als Unternehmer ein Profiteur des Nazi-Regimes. Bis zu einem gewissen Punkt lief er im System mit. Was machte Schindler dann anders als die zahllosen Mitläufer und Täter?

Er nutzte zunächst das System aus ganz banalen ökonomischen Motiven heraus. Er war einer der Vielen aus Wirtschaft und Industrie, die mit Hilfe der Nazis reich werden wollten. Aber es gab den Augenblick, an dem er merkte, dass es nicht mehr um die Frage ging, Geld zu haben oder nicht, sondern darum, als Mensch aus der Sache herauszukommen. In dem Moment, wo er die, die für ihn arbeiteten, wieder als Menschen sah - die Juden waren dann wieder einzelne Persönlichkeiten - wusste er, was zu tun ist, nämlich Leben zu retten. Ihm wurde bewusst, dass das Regime der Nazis etwas tat, was für ihn nicht hinnehmbar war, nämlich aus Menschen Nicht-Menschen zu machen. Es gibt diesen schönen Satz vom Theaterschriftsteller George Tabori, der sagt: "Jeder ist jemand." Bei den Nazis waren Juden niemand. Und bei Oskar Schindler wurden die Mensch, zu denen er Kontakt hatte, wieder jemand. Und damit wurde auch er selbst wieder zu einem Jemand - nämlich zu einem Menschen, der helfen wollte und der geholfen hat.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist Schindlers Handeln ein Beispiel dafür, dass einzelne Menschen sehr wohl etwas verändern können im Räderwerk des komplizierten Großen und Ganzen.

Oskar Schindler 1967Bild: picture-alliance / dpa

Wenn Oskar Schindler zwischen 1942 und 1945 Menschen retten konnte, was hätte man in den Jahren davor alles machen können? Es hätte Auschwitz vielleicht niemals gegeben. Und wenn wir das auf unsere Gegenwart übertragen, stellt sich die Frage: Wie viele Anfangspunkte der Gewalt haben Sie oder ich bisher übersehen in Augenblicken, wo wir im Betrieb, in der Familie, im Verein hätten "Stopp" sagen müssen, uns hätten einmischen oder den Diskurs verändern müssen? Haben wir es getan oder nicht getan? Wenn wir in einem so wunderbar demokratischen, freien Umfeld leben, braucht es dazu weder Mut noch Courage, sondern es bedarf der Haltung. Genau das machte Oskar Schindler. Er entwickelte in den Jahren, in denen er in Krakau war, eine andere Haltung. Und wenn man die Haltung entwickelt hat, dann ist die Einmischung nicht mehr kompliziert und schwierig. Und ich kann sagen: Heute ist schon lange nicht mehr die Zeit der Anfänge, denen wir wehren wollten, sondern wir sind mittendrin. Und es ist eine strukturelle Problematik unserer Gesellschaft. Also: handeln, Gesicht zeigen, sich einmischen. Und das übrigens nicht der Juden oder anderer Minderheiten wegen, sondern sich einmischen, seiner selbst wegen. Wenn wir von Menschenrechten sprechen, sind wir doch alle davon betroffen, oder?

Gibt es heute, fast 75 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur und dem Holocaust, genügend Oskar Schindlers in der deutschen Gesellschaft, denn die politische Landschaft hat sich gewaltig verändert, vor allem rechts?

Es ist ein erschütternder Skandal, der uns alle betrifft, dass wir dieses Thema diskutieren, nachdem eine menschenfeindliche, antisemitische und rassistische Partei in den Bundestag gewählt wurde, deren Vorsitzender Auschwitz, Hitler und das Dritte Reich nur als "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte verharmlost. Es ist auch ein Skandal, dass immer noch Millionen Menschen dieser Partei Ihre Stimme geben wollen. Jeder, der eine Partei wählt, die für Hass, Ausgrenzung und Demokratie-Verachtung steht, weiß, dass er mit seiner Stimme dieses Gedankengut unterstützt. Sage niemand, er habe es nicht gewusst. Glaube keiner, man könne sich die Hände in Unschuld waschen, wenn man geistige Brandstiftung unterstützt. Ich hätte nicht gedacht, dass es Realität wird, dass eine legitimierte und legalisierte Partei die Geschichte umschreiben will und etwa das Berliner Holocaust-Mahnmal als "Mahnmal der Schande" kritisiert. 20 Prozent der Deutschen können sich vorstellen, so etwas zu unterstützen. Aber die übrigen 80 Prozent sind, wie ich finde, zu leise, zurückhaltend und gleichgültig. Dabei gibt es nicht wenige, die sich einmischen - aber nicht genug und viele nicht laut genug. Sie fragen nach Schindlers - wir sind weit davon entfernt, Helden zu brauchen, wir brauchen Demokraten.

Das Holocaust-Mahnmal in BerlinBild: picture-alliance/Schoening

Welche Rolle spielt dabei das Grundgesetz?

Wenn unsere Gesellschaft das Grundgesetz, entstanden aus den Erfahrungen der NS-Zeit, nicht mehr als oberstes eigenes Wesensprinzip für unser Land empfindet, nämlich, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und nicht merkt, dass es wieder Menschen und Parteien gibt, die diese Würde antasten - also das Fundament unseres Landes, unserer Gesellschaft antasten -, wenn das nicht zu einem Aktivwerden von Millionen anderen führt, dann sehe ich pessimistisch in die nächsten Jahre. Aber: Jeder Tag bietet die Chance für Millionen Menschen, sich zu besinnen und zu beschließen, ich tue jetzt etwas. Das muss, wie schon gesagt, nicht im großen politischen Rahmen sein: Zuhause, im Betrieb, im Verein immer wieder üben, dann kann man auch mal im Politischen lauter werden. Es bedarf einer Entscheidung. Nichts zu tun, ist auch eine Entscheidung. Es gibt nicht die Entschuldigung, dass der Einzelne nichts machen kann. Im Judentum gibt es den Satz: "Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt." Das bedeutet auch: Einen kleinen Beitrag zu leisten, heißt etwas getan zu haben.

"#wirsindmehr"-Demo in Hannover 2018Bild: picture-alliance/dpa/J. Stratenschulte

Der Name Oskar Schindler ist in gewisser Weise eine Art Maßstab für humanes Handeln und Mitmenschlichkeit. Benötigt Deutschland zusammengefasst also mehr Schindler-Haltung?

Deutschland, Europa und übrigens auch Amerika braucht die Haltung: Es geht mich was an, ich kann die Welt verändern - vielleicht nur mit einem ganz kleinen Mosaikstein. Und es gibt keinerlei Entschuldigung, wenn man es nicht getan hat. Jeder, der mir sagt, es bringt ja doch nichts, mich einzumischen, dem sage ich: eine billige Entschuldigung. Steh auf, tu es!

Das Gespräch führte Klaus Krämer.

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