Michelle Bachelet war immer Pionierin: Als erste Verteidigungsministerin Chiles und als erste Präsidentin. Jetzt ist sie UN-Menschenrechtskommissarin – und erzählt von ihrem Einsatz für Frauenrechte.
Anzeige
Als Michelle Bachelet 2006 die erste Präsidentin von Chile wurde, waren Scheidungen in dem lateinamerikanischen Land gerade einmal seit zwei Jahren legal. Abtreibungen waren komplett verboten, selbst im Falle einer Vergewaltigung. Eine alleinerziehende Mutter, Sozialdemokratin und Atheistin an der Spitze – das war eine Sensation in dem sehr konservativen und katholisch geprägten Chile.
Bereits 2002 war Bachelet "die Erste": Chiles erste weibliche Verteidigungsministerin. "Ich war die erste in Chile, in Lateinamerika und die fünfte auf der ganzen Welt. Ich erzähle Ihnen das nicht, um zu sagen, wie stolz ich bin, sondern wie schlimm die Situation für Frauen ist."
Unrecht der Pinochet-Diktatur
Heute ist Bachelet ein Vorbild für viele junge Frauen - vor allem in dem Land, in dem ihre Familie einst von der Militärdiktatur verfolgt wird. Bachelets Vater, ein General der Luftwaffe, widersetzt sich 1973 dem brutalen Militärputsch von Augusto Pinochet. Er wird inhaftiert und gefoltert. Die Folgen der Folter kosten ihn schließlich das Leben. Auch Bachelet und ihre Mutter werden ins Gefängnis gesteckt und müssen fliehen.
Diese Erfahrungen haben Bachelet geprägt: "Sie haben meine Vorstellung von Menschenrechten, der Bedeutung von Demokratie und Dialog gestärkt." Nach vier Jahren im Exil kehrt Bachelet 1979 zurück nach Chile - noch vor dem Ende der Militärdiktatur. Sie wird Ärztin und behandelt Folteropfer.
Nach der Flucht: Putsch, Diktatur und der Weg zur Demokratie in Chile
Der 11. September 1973 verändert das Leben vieler Chilenen für immer: Ein Putsch gegen Präsident Allende bringt Augusto Pinochet an die Macht. 16 Jahre später wird der Diktator durch eine spektakuläre Kampagne gestürzt.
Bild: WDR
Chiles 11. September
Der 11. September 1973 verändert das Leben vieler Chilenen für immer: Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Augusto Pinochet, putscht gegen den amtierenden sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Die Militärs bombardieren den Präsidentenpalast "La Moneda" in der Hauptstadt Santiago, verhaften Regierungstreue, Linke und Pinochet-Gegner.
Bild: OFF/AFP/Getty Images
Salvador Allende: Ein Präsident des Volkes
Erst drei Jahre zuvor war der Sozialist Salvador Allende ins Amt gewählt worden. Weil er Firmen verstaatlicht und Großgrundbesitzer enteignet, begegnet seine Regierung von Anfang an heftigem Widerstand. Auch den USA ist so viel Sozialismus in Südamerika ein Dorn im Auge. Mit Hilfe der CIA boykottiert sie Allendes Wirtschaftspolitik und macht in chilenischen Medien Stimmung gegen die Regierung.
Bild: picture-alliance/dpa
Tod des Präsidenten
Noch am Tag des Putsches begeht Salvador Allende im Präsidentenpalast Selbstmord (im Bild wird seine Leiche aus dem Gebäude getragen). "Von hier zum Friedhof, ich bin kein Mann des Exils", hatte er schon beim Amtsantritt gesagt. Währenddessen wird das "Estadio Nacional", wo sonst Fußball gespielt wird, zum Konzentrationslager: 40.000 Menschen werden eingesperrt, Tausende gefoltert und ermordet.
Bild: picture-alliance/AP
Ein Stadion als Konzentrationslager
Auch Walter Ramirez, Kameramann des Films "Nach der Flucht", wird verhaftet. Am 11. September 1973 läuft der Student mit einem Kommilitonen durch Santiago. Soldaten nehmen beide fest - weil sein langhaariger Freund argentinische Pesos dabei hat, die er für eine Reise zu Frau und Sohn nach Argentinien braucht. Als mutmaßliche "Landesverräter" werden beide tagelang im Nationalstadion festgehalten.
Bild: DW/S. Spröer
Schüsse auf die Umkleidekabine
Walter Ramirez und sein Freund werden in einer Umkleidekabine mit fast einhundert anderen Männern zusammengesperrt. Alle teilen sich zwei Toiletten, Soldaten schießen von außen auf die Fenster - aus Langeweile. Nach einigen Tagen werden Walter und sein Freund freigelassen. Warum, weiß er bis heute nicht. Vielleicht, weil sein Vater für eine US-Firma arbeitete? Das Thema ist in seiner Familie tabu.
Bild: DW/S. Spröer
Vom General zum Diktator: Augusto Pinochet
Der Kopf hinter dem Putsch ist General Augusto Pinochet, Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Von 1973 bis 1990 regiert er Chile diktatorisch: Linke Parteien und Gewerkschaften sind verboten, Presse- und Meinungsfreiheit abgeschafft. Von den USA, aber auch von Politikern in Deutschland, wird das Pinochet-Regime massiv unterstützt.
Bild: picture-alliance/dpa
Folter, Morde und Bücherverbrennung
Nun leben auch Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in Chile gefährlich. Der Liedermacher Victor Jara wird verhaftet, gefoltert und in einem Basketball-Stadion in Santiago erschossen. Auf den Straßen werden Bücher unliebsamer Autoren verbrannt. Viele Gegner der Diktatur verlassen Chile in den nächsten Monaten und Jahren.
Bild: AFP/Getty Images
Antonio Skármeta: Aus Chile ins Berliner Exil
Auch der Schriftsteller und Uni-Dozent Antonio Skármeta verlässt Chile 1973. 16 Jahre lang lebt er im Exil in Berlin, schreibt dort unter anderem die erfolgreichen und teils mehrfach verfilmten Bücher "Nixpassiert" und "Mit brennender Geduld". Das Thema Exil wird eines seiner Lebensthemen. Im DW-Special "Nach der Flucht" wird Antonio Skármetas Geschichte erzählt.
Bild: WDR
Isabel Allende: Aus Chile über Venezuela in die USA
Eine andere prominente Exilantin ist Isabel Allende, Autorin des Welt-Bestsellers "Das Geisterhaus". Die Journalistin und Frauenrechtlerin geht 1975 ins Exil nach Venezuela. Präsident Salvador Allende war übrigens nicht ihr Onkel, wie es oft heißt, sondern der Cousin ihres Vaters. Im Roman "Paula" beschreibt Allende ihre Zeit im Exil. Heute lebt sie in den USA.
Bild: VICTOR ROJAS/AFP/Getty Images
Pinochet und die Militärs: Das Ende naht
Im August 1987 nimmt Diktator Augusto Pinochet die Militärparade zum 14. Jahrestag seiner Machtübernahme ab. Doch seine Tage sind gezählt: Für das nächste Jahr steht eine Volksabstimmung über seine Zukunft an. Die Gegner der Diktatur mobilisieren alle Kräfte. Mit einer spektakulären Aktion leiten sie für Chile die Wende ein...
Bild: picture-alliance/dpa
Eine Werbekampagne beendet die Diktatur
Im Oktober 1989 entscheiden die Chilenen darüber, ob Augusto Pinochet als alleiniger Kandidat bei den nächsten Wahlen antreten darf. Ja oder nein? Ein buntes Werbe-Video mobilisiert die Massen – eine Mehrheit traut sich und stimmt mit "No!". Das Ende der Diktatur ist eingeleitet.
Bild: picture-alliance/dpa/epa
Friedlicher Übergang zur Demokratie
Im März 1990 übergibt Pinochet das Präsidentenamt an den Christdemokraten Patricio Aylwin (rechts). Pinochet bleibt bis 1998 Chef des Heeres. Keines der zahlreichen internationalen Verfahren gegen ihn führt zu einer Verurteilung. Am 10. Dezember 2006 stirbt Augusto Pinochet mit 91 Jahren – ohne je für die Verbrechen der Diktatur zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.
Bild: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile
Erbe der Diktatur in einer gespaltenen Gesellschaft
Erst langsam wird die Diktatur in Chile aufgearbeitet, die Demokratie hat nicht alle Probleme gelöst. 2017 demonstrieren Menschen immer wieder gegen das in der Pinochet-Zeit privatisierte AFP-Rentensystem, das viele Chilenen ausschließt oder nur Mini-Renten bereitstellt. Das Erbe der Diktatur wirkt bis heute weiter. Aber immerhin: Jetzt dürfen die Menschen für ihre Meinung auf die Straße gehen.
Bild: DW/S. Spröer
13 Bilder1 | 13
Die DW hat mit Michelle Bachelet im Rahmen der Interview-Reihe "Merkel's Era: The Women of Power" gesprochen. Sie habe nie daran gedacht, Präsidentin zu werden, erzählt Bachelet. "Frauen wird beigebracht, dass sie vieles erreichen können, aber dass Ehrgeiz etwas Schlechtes ist."
Doch Bachelet lässt sich von ihrer Mutter inspirieren, die berufstätig ist und später Aktivistin wird. Schon in der Mädchenschule lernt sie, sich zu beweisen. Das prägt ihr Selbstverständnis als Frau: "Unser Platz im Leben ist nicht unbedingt in der Küche, wir können mehr erreichen."
Nach dem Ende der Militärdiktatur 1990 in Chile startet Bachelet zunächst eine Karriere im Gesundheitsministerium. Dann folgen zunächst das Verteidigungsministerium und schließlich die zwei Präsidentschaften - unterbrochen von drei Jahren an der Spitze der "UN Women".
"Tausende von sexistischen Situationen"
In ihrer politischen Karriere war Michelle Bachelet - wie viele andere Frauen - ständig mit Sexismus konfrontiert. "Ich könnte Ihnen von tausenden sexistischen und frauenfeindlichen Situationen und Einstellungen erzählen." So sei über ihre Kleidung und über ihren Körper gesprochen worden, dass sie dick sei. "Ich habe das nie über Kollegen gehört", sagt Bachelet.
Eine Journalistin habe sie mal gefragt, wie sie als geschiedene Frau mit Problemen umgehe, da sie ja keinen Ehemann habe, der ihr helfen könne. "Wie ich es immer gemacht habe: mit guten Beratern, Freunden etc.", sei ihre Antwort gewesen. "Männer stellen immer die Fähigkeiten von Frauen infrage." Dem habe Bachelet immer mit Expertise entgegengewirkt. Doch die von ihr beschriebene Situation zeige: Auch Frauen könnten ohne Absicht sexistisch sein.
Anzeige
Reform des Abtreibungsrechts
Trotz ihrer Vorreiterrolle musste Bachelet auch Rückschläge einstecken. Ihre zweite Amtszeit wurde überschattet von einem Korruptionsskandal in ihrer Familie. Angekündigte Reformen wie die der Verfassung konnte sie nicht realisieren. Ihr Plan, Abtreibungen komplett zu entkriminalisieren, scheiterte. Doch nach jahrelangem Einsatz schaffte Bachelet es 2017 immerhin, Chiles Abtreibungsrecht zu reformieren. Abtreibungen sind nun in drei Fällen erlaubt - unter anderem nach einer Vergewaltigung.
Die 69-Jährige zieht eine positive Bilanz ihres Einsatzes für Frauenrechte. Im Gespräch nennt sie Beispiele aus ihrer Amtszeit, wie den Bau von Frauenhäusern oder Verbesserung der Gesetzgebung zur Gewalt gegen Frauen. Aber sie sagt auch: "Wir müssen immer noch mehr tun." Gerade in Chile ist häusliche Gewalt weit verbreitet und gehört zu den am meisten angezeigten Straftaten im Land.
Ihre Mission verfolgt Bachelet seit 2018 weiter: als UN-Menschenrechtskommissarin. Gerade in der Coronavirus-Pandemie, dievon den UN auch als "Krise der Frauen" bezeichnet wird. Weltweit sei ein "brutaler Anstieg" von häuslicher Gewalt zu beobachten, so Bachelet. "Wir brauchen den politischen Willen, um bessere Gesetze für Gewalt gegen Frauen voranzutreiben." Dazu sei aber auch ein kultureller Wandel nötig und Änderungen im Justizsystem und bei der Polizei. Wenn betroffene Frauen zur Polizei gingen, erzählt Bachelet, sagte die nur: 'Komm, geh' nach Hause, vertrage dich mit deinem Mann.'
Bachelet und Merkel
Bachelet gehört zur selben Generation wie eine andere Wegbereiterin – Kanzlerin Angela Merkel. Die Frauen scheint einiges zu verbinden: Beide sind Wissenschaftlerinnen, beide waren die erste Frau in ihrem Amt. Außerdem lebte Bachelet mehrere Jahre in Merkels Heimat, der DDR, und spricht ihre Sprache, Deutsch.
Bachelet und Merkel haben sich mehrmals getroffen. "Man versucht immer, andere Frauen in Führungspositionen zu unterstützen, weil alle Frauen an der Macht diese Unterstützung brauchen." Angela Merkel sei ein gutes Vorbild für andere Frauen: "Niemand würde jemals denken, dass Angela Merkel schwach ist. Das ist eine sehr wichtige Errungenschaft für Frauen."
Anders als Angela Merkel, bezeichnet sich Bachelet offen als Feministin und betont, dass ihre Interpretation des Begriffes Männer einschließt: "Wir Frauen wurden so lange ausgeschlossen. Wir wissen, dass es keine Verbesserungen geben kann, indem wir andere ausschließen."