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PolitikTunesien

Druckmittel Migration: Machtprobe zwischen Tunesien und EU

19. September 2023

Die Kooperation zwischen Tunesien und der EU zur Begrenzung der Migration gestaltet sich schwierig. Beide Seiten nutzen ihre Druckmittel.

Migranten kommen auf einem Boot im Hafen von Lampedusa an, September 2023
In den letzten Wochen sind tausende Migranten aus Tunesien in Lampedusa angekommenBild: Cecilia Fabiano/AP Photo/picture alliance

Die tunesische Regierung reagierte plötzlich ganz schnell: Kurz nachdem die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Aufnahmezentrum auf der italienischen Insel Lampedusa besucht hatten, wiesen die tunesischen Behörden hunderte Migranten aus Subsahara-Ländern aus dem Hafen von Sfax aus.

So berichtete es die Menschenrechtsorganisation 'Tunisian Forum for Economic and Social Rights' (FTDES) der Nachrichtenagentur AFP. Demnach evakuierten die Behörden einen Platz in der Hafenstadt Sfax, auf dem sich rund 500 Migranten versammelt hatten. Die Migranten seien in ländliche Gebiete und andere Städte gebracht worden, so FTDES.

Sfax gilt als Nadelöhr der Migrationsrouten aus Afrika nach Europa. Von dort starten zahlreiche Boote in See, die allermeisten mit dem Ziel Lampedusa. Die Entfernung zwischen Sfax und der Insel beträgt knapp 188 Kilometer Luftlinie. Aufgrund dieser kurzen Distanz erreichen zahlreiche Migranten das Gebiet der EU über Tunesien. Im Falle Lampedusa  kommt die ganz überwiegende Mehrheit dorther. 

Das verleiht Tunesiens Regierung gegenüber Europa enorme Verhandlungsmacht. Diese hat das Land in den vergangenen Wochen immer wieder getestet und damit seine Einflussmöglichkeiten demonstriert.

So war der Lampedusa-Besuch Melonis und von der Leyens in Reaktion auf die hohe Zahl von Flüchtlingen und Migranten erfolgt, die die Insel in den Wochen und Tagen zuvor erreicht hatten. Die Evakuierung eines Teils von ihnen signalisierte den Europäern dann, dass Tunesien durchaus beeinflussen kann, wie viele der sich im Lande aufhaltenden Migranten von dort aus in Richtung Europa weiterreisen.  

Der jetzigen Situation vorausgegangen war im Juli ein Besuch hochrangiger europäischer und EU-Politiker in Tunis. Dabei hatten sich beide Seiten auf ein künftiges Migrationsabkommen verständigt. Dessen wichtigstes Ziel aus europäischer Sicht: die irreguläre Migration nach Europa zu unterbinden.

Dabei hatte sich die EU bereit erklärt, für Such- und Rettungsaktionen und die Rückführung von Migranten gut 100 Millionen Euro jährlich zur Verfügung stellen. In dem - noch zu ratifizierenden und politisch durchaus umstrittenen - Paket enthalten sind zudem zahlreichen Wirtschaftshilfen und Kooperationsabkommen mit Tunesien. Über die Jahre soll das Land nach derzeitigem Stand rund 900 Millionen Euro erhalten. Er sei "fest entschlossen", das Abkommen "schnellstmöglich" umzusetzen, hatte der tunesische Präsident Kais Saied nach dem Gespräch mit von der Leyen und anderen europäischen Spitzenpolitikern im Juli erklärt.

Tunesien und die EU: Unzufriedenheit auf beiden Seiten

Bisher erweist sich das Abkommen allerdings als weitgehend wirkungslos. Besonders dramatisch war die Lage etwa am Dienstag vergangener Woche (12.09.2023), als über 5000 Migranten aus Tunesien kommend in Lampedusa eintrafen. Zahlen des italienischen Innenministeriums zufolge wurden seit Beginn des Jahres bereits mehr als 123.800 Menschen registriert, die auf Booten Italien erreichten - im Vorjahr waren es von Januar bis Mitte September 65.500. Bis Ende des Jahres könnte gar der Höchstwert von 2016 übertroffen werden - damals kamen 181.000 Menschen an.

Dass Präsident Saied am Wochenende Migranten aus Sfax in andere Landesteile bringen ließ, sei wohl tatsächlich als Zeichen zu verstehen, meint auch Johannes Kadura, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis. "Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass die Behörden ausgerechnet jetzt schärfer gegen Migranten vorgehen. Man will offenbar zeigen, dass man durchaus die Möglichkeit hat, gegen Schlepper vorzugehen und Migranten daran zu hindern, in See zu stechen."

Machtbewusst: der tunesische Staatspräsident Kais SaiedBild: Tunisian Presidency/APA Images/ZUMAPRESS.com/picture alliance

Auszuschließen sei allerdings auch nicht, dass Tunesien auch entgegengesetzte Zeichen sende. Einige Beobachter glaubten, die Regierung in Tunis sei mit der bisherigen Ausgestaltung des Migrationsabkommens mit der EU unzufrieden, so Kadura. Diese Beobachter seien der Ansicht, die Regierung habe Menschen sogar absichtlich in See stechen lassen, um auf diese Weise Druck auf Europa auszuüben." Damit sendet die Regierung offenbar Signale in beide Richtungen aus: Kooperation und Konfrontation. Auf diese Weise signalisiert sie offenbar, dass sie sich unterschiedliche Optionen offenhalten will.

Steigender Migrationsdruck

Tatsächlich seien die Erwartungen in Tunesien groß, sagt Christian Hanelt, Nahost- und Nordafrika-Experte der Bertelsmann-Stiftung: "Meloni und der tunesische Staatspräsident Said sind eine Art Schicksalsgemeinschaft." Der tunesische Staatspräsident gehe offenbar davon aus, dass Meloni, die den italienischen Wählern eine deutliche Begrenzung der Migration versprochen hatte, ihm direkte Budgethilfen ohne Konditionen verschaffen könne. "Und er hofft, dass die EU auch die tunesischen Sicherheitsbehörden und die Küstenwache aufrüstet."

Zugleich hoffe Saied, durch die Gespräche mit Meloni und anderen europäischen Politikern, die diplomatische Isolation zu überwinden, in die er durch seinen autoritären innenpolitischen Kurs geraten sei, meint Hanelt. Diplomatisch sei Meloni Saied nun zwar entgegengekommen. Zu Budget-Hilfen der EU könne sie ihm allerdings nicht verhelfen, da diese an politische und menschenrechtliche Standards wie auch an die Zusage Tunesiens gebunden seien, vom Internationalen Währungsfonds erarbeitete Reformen umzusetzen. "Und dagegen sperrt sich Saied", so der Experte aus Deutschland.

Solche Eisenboote werden von Migranten benutztBild: ANSA/CIRO FUSCO/picture alliance

Tatsache sei, dass der Migrationsdruck in Richtung EU weiter ansteigen werde - gerade auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Bemühungen, ihn einzugrenzen, meint Christian Hanelt. Viele Flüchtlinge betrachteten die jüngsten Ereignisse wie etwa die Gespräche führender europäischer Politiker mit dem tunesischen Staatspräsidenten oder die Diskussionen über weitere Partnerschaftsabkommen im Mittelmeerraum als Warnzeichen, dass Migration künftiger schwieriger werden könnte. Auch die schlechte Wirtschaftslage wie auch frühere negative Äußerungen des Präsidenten gegen Migranten aus Afrika führten dazu, dass immer mehr Menschen sich auf den irregulären Weg nach Lampedusa machten, meint Hanelt. "Ob Saied das für seine Interessen nutzt, ist schwer zu sagen. Es ist nicht auszuschließen, dass die tunesischen Sicherheitsbehörden ein Auge zudrücken. Betonen muss man aber auch: Dafür gibt es bisher keine Beweise."

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Tunesien: Zunehmend machtbewusst

Das Migrationsabkommen mit Tunesien, obwohl noch nicht final abgesegnet, ist auf europäischer Ebene bereits vielfach kritisiert worden. Es sei fraglich, dass es die irreguläre Migration tatsächlich nennenswert unterbinde, monieren Kritiker. Zum anderen steht Tunesien auch wegen seines Umgangs mit Migranten in der Kritik. So hatten die tunesischen Behörden Anfang Juli rund 800 Migranten ungeschützt in einem Wüstengebiet an der tunesisch-libyschen Grenze ausgesetzt. Im Frühjahr hatte Saied zudem öffentlich gegen Migranten aus Subsahara-Afrika gehetzt

Auf Kritik reagiert die tunesische Regierung bisher eher kühl - und durchaus machtbewusst. So verweigerte sie fünf Abgeordneten des EU-Parlaments, die sich ein Bild von der Menschenrechtslage in Tunesien machen wollten, erst Mitte September die Einreise. Arabische Medien zitierten Präsident Saied mit der Aussage, er lehne eine äußere Einmischung in innere Angelegenheiten ab, Überwachungsmissionen seien in Tunesien unerwünscht. Ein weiteres Zeichen dafür, dass sich der Präsident seines Spielraums gegenüber der EU bewusst ist.

"Europa kann seine Verantwortung nicht delegieren"

Johannes Kadura von der Ebert-Stiftung hält dies für problematisch: "Man muss seitens der EU nicht so tun, als hätte man das überhaupt nicht vorhersehen können und sei jetzt überrascht", so der Experte. "Wenn man derartige Abkommen schließt, muss man auch Sorge dafür tragen, dass diejenigen Migranten, die an der Überfahrt gehindert werden, wieder nach Hause kommen - und zwar auf menschenwürdige Weise. Europa kann seine Verantwortung nicht delegieren!"

Versteckte Machtprobe zwischen der EU und Tunesien

Auch das weiß man in Tunesien. In der Summe laufen die Verhandlungen zur Eindämmung der irregulären Migration deshalb möglicherweise auf eine Machtprobe zwischen dem nordafrikanischen Land und der EU hinaus. Tunesien hat die Mittel, den Migrationsdruck auf Europa zu erhöhen und weiß, dass europäische Politiker in diesem Zusammenhang ein weiteres Erstarken rechtpopulistischer und migrationsfeindlicher Kräfte in Europa befürchten. Die EU hingegen kann Tunesien zumindest partiell den Zugriff auf finanzielle Mittel ermöglichen, auf die das ökonomisch schwer unter Druck stehende Land dringend angewiesen ist - oder diese umgekehrt an Konditionen binden und zurückhalten. Fraglich ist jedoch, ob beide Seiten an gegenseitigen Blockaden wirklich Interesse haben können.

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika