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Migration: Bad Kreuznach, die überlastete Stadt

19. November 2023

Angesichts steigender Zahlen von Geflüchteten sind viele Kommunen in Deutschland bei der Aufnahme am Limit. DW-Reporter Oliver Pieper war in Bad Kreuznach.

Brückenhäuser auf der Alten Nahebrücke in Bad Kreuznach
Brückenhäuser auf der Alten Nahebrücke in Bad KreuznachBild: Oliver Pieper/DW

Viel besser kann man die aktuelle Gemütslage in Deutschland beim Thema Migration nicht beschreiben als damit, was in den letzten Minuten der monatlichen Kreisversammlung von Bad Kreuznach passiert. Ziemlich geräuschlos haben die Lokalpolitiker über den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs des 160.000-Einwohner-Kreises diskutiert, bis am Ende von einem Moment auf den anderen die Stimmung kippt. Denn die Nachricht, dass das Bundesland Rheinland-Pfalz eine Sammelunterkunft für 300 Geflüchtete im Landkreis plant, sorgt für hitzige Diskussionen. Mittendrin: CDU-Landrätin Bettina Dickes.

Sie sagt: "Das, was hier gerade ein Bürgermeister deutlich ausgesprochen hat: 'Wir sind voll, wir können nicht mehr!‘ sage ich auch die ganze Zeit. Das erleben Sie bei allen Landräten deutschlandweit und auch parteiübergreifend, da ist kein Unterschied. Es trifft auch die Stimmung auf der Straße. Nicht Ausländerfeindlichkeit, sondern Angst, dass wir uns überfordern."

"Die Menschen wünschen, dass der Staat handelt und nicht ohnmächtig daneben steht" - Bettina DickesBild: Landkreis Bad Kreuznach

294 Landräte und Landrätinnen gibt es in Deutschland. Dickes ist in den letzten Tagen zu ihrem Sprachrohr geworden, wenn es um die Aufnahme und Integration von Geflüchteten geht. In der TV-Talkshow "Markus Lanz" nahm sie kein Blatt vor den Mund, was die Überforderung der Kommunen angeht. Ihr Hilfeschrei Richtung Berliner Politik ging viral und durch alle Medien. Allein 500 Mails habe sie bekommen, keine Handvoll negativ, so Bettina Dickes gegenüber der DW:

"Wir haben keinen Wohnraum. Wir haben keine Chance auf Integration, weil keine Menschen da sind, die integrieren können, und weil die Menschen in Sammelunterkünften leben. Wir haben keine Zukunftsperspektive für die Menschen, die hier sind. Vor dem Hintergrund ist meine klare Ansage: Es muss etwas passieren!"

Deutschland will Einwanderung reduzieren

Die Bundesregierung hat bereits mit einem ganzen Maßnahmenpaket reagiert, um die irreguläre Migration nach Deutschland einzudämmen: Dazu gehören eine Verlängerung der Grenzkontrollen, erschwerter Familiennachzug und Kürzungen der Asylbewerberleistungen.

Migrationsdebatte in Deutschland wird schärfer

03:04

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Außerdem sollen durch Rückführungsabkommen mehr Menschen wieder Deutschland verlassen, Olaf Scholz will "endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben", so der Bundeskanzler im "Spiegel". Acht Jahre nach Angela Merkels legendärem Ausspruch "Wir schaffen das" könnte der Ton in der deutschen Migrationsdiskussion kaum unterschiedlicher sein. Landrätin Dickes bemerkt auch in der Bevölkerung einen Stimmungsumschwung. Und einen Teufelskreis.

"In der Altersspanne 16 bis 25 sind über 85 Prozent der Flüchtlinge männlich. Wenn wir noch Wohnraum finden, dann höchstens noch ganz vereinzelt für Familien. Mit den Sammelunterkünften schaffen wir uns aber eine Insel geflüchteter Menschen inmitten unserer Gesellschaft. Und die Bereitschaft für Sammelunterkünfte geht gleichzeitig massiv nach unten."

Herausforderung für Lokalpolitiker

Als Dickes von den Gedankenspielen der rheinland-pfälzischen Landesregierung über eine geplante Sammelunterkunft von 300 Geflüchteten im kleinen Ort Seiberbach mit seinen knapp 1300 Einwohnern erfährt, greift sie zum Telefonhörer. Am anderen Ende: Michael Cyfka, CDU-Bürgermeister einer der sechs Verbandsgemeinden von Bad Kreuznach. Lokalpolitiker wie Cyfka sind es, die mit an der letzten Stelle der Kommunikationskette stehen und auf Gemeindeversammlungen Prellbock für Fragen, Wut und Ängste der Bevölkerung in der Migrationsdebatte sind.

"Ich habe im ersten Moment gedacht, das ist ein Scherz, als die Landrätin mich angerufen hat. Das hat uns natürlich ein bisschen kalt erwischt, deswegen ist es im Moment schon eine sehr unruhige Situation. In der Gemeinde ist schon Feuer unter dem Dach."

"Bei allen Diskussionen reden wir hier immer noch über Menschen und nicht nur über Zahlen" - Michael CyfkaBild: Oliver Pieper/DW

Cyfka feiert in diesen Tagen sein zehnjähriges Jubiläum als Bürgermeister von Langenlonsheim-Stromberg, viel Zeit dafür bleibt ihm nicht. Stattdessen ist er jetzt wieder als Krisen-Kommunikator bei Bürgertreffen und Mangel-Manager für Wohnraum gefordert. Schon 2015 hat er unermüdlich Menschen abtelefoniert und auf Dorfveranstaltungen angesprochen, von denen er wusste, dass sie ein Mietshaus besitzen.

Fehlender Wohnraum als Hauptproblem

Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges 2022 auf die Ukraine bestellte er mit dem Sozialamt auf eigene Faust 50 Feldbetten im Internet für ukrainische Geflüchtete, für alle Fälle. Jetzt kann es ihm schon mal passieren, dass er am Donnerstag einen Anruf bekommt, weil am Freitag fünf Geflüchtete mit einem Bus ankommen. Und er diese zur Not erst einmal in einem Hotel unterbringen muss. Obwohl er für seine Verbandsgemeinde immer über Bedarf Wohnraum vorgehalten habe, sei er derzeit mit seinem Latein ein Stück weit am Ende, beklagt Cyfka gegenüber der DW.

In Deutschlands Flüchtlingsunterkünften wird es eng

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"Ich kann ja keine Wohnungen herbeizaubern. Viele Bürger sagen mir auch, ich vermiete Wohnraum, aber nur, wenn Du mir Ukrainer bringst. Hinzu kommt, dass das ehrenamtliche Engagement merklich abgenommen hat. Und wir deswegen schon lange nicht mehr in den Kommunen über Integration sprechen, sondern nur noch über die Unterbringung."

Deutschland jetzt besser aufgestellt als 2015

Wenn sich jemand mit der Aufnahme und Integration von Geflüchteten in Bad Kreuznach auskennt, dann ist es Jan Kammerer. Der Arbeiter-Samariter-Bund betreut im Landkreis eine Sammelunterkunft in einer alten Schule mit derzeit 55 Geflüchteten vor allem aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Kammerer, seit 20 Jahren beim ASB an Bord und jetzt deren Geschäftsführer, hält die aktuelle Debatte über überlastete Kommunen für übertrieben:

"Wenn ich die Situation heute mit der von 2015 vergleiche, haben wir damals viel mehr bei der Unterbringung machen müssen. Wenn wir bei der Belastung von 1 bis 10 bei einer 10 waren, sind wir jetzt bei 6 oder 7. Wir sind nun vor und nicht mehr hinter der Welle, haben aber ein Stück weit in Deutschland eine vergiftete Debatte", sagt er gegenüber der DW.

"Deutschland ist ein Einwanderungsland und auf Migration angewiesen. Warum packen wir es dann nicht mit Integration an?" - Jan KammererBild: Oliver Pieper/DW

Kammerer gehört zu den Flüchtlingshelfern erster Stunde. Er erinnert sich daran, dass sie vor acht Jahren noch kurz vor Toresschluss Kopfkissen bei IKEA besorgen und einen Bus voll Trinkwasser vollladen mussten, und an Gesundheitsämter, die damals keinen Schimmer gehabt hätten, wie sie die Geflüchteten behandeln sollten.

Heute hat die Sammelunterkunft im Landkreis einen Vertrag mit einem Hausarzt, einen eigenen Caterer und einen Sozialpädagogen, die sich rund um die Uhr inklusive Deutschunterricht um die Geflüchteten kümmern. Vor allem aber kommt das Jobcenter jetzt in die Sammelunterkunft, um die Menschen in Kontakt mit ansässigen Firmen frühzeitig in Ausbildung oder Arbeit zu bringen.

Diskussion über Abschiebung und nicht über Integration

Eine bundesweite Online-Umfrage der Forschungsgruppe Migrationspolitik der Universität Hildesheim hatte jüngst ergeben, dass sich 40 Prozent der Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten "im Notfallmodus" sehen, 60 Prozent die Situation als "herausfordernd, aber noch machbar" beschrieben. Jan Kammerer verweist darauf, dass Landräte und Bürgermeister die Situation der Kommunen laut der Studie negativer einschätzen als Mitarbeiter der Fachabteilungen.

Kammerer findet, dass die Debatte gerade völlig in die verkehrte Richtung driftet. "Die meisten Menschen hier haben einen legitimen Schutzstatus, also sollten wir die Geflüchteten durch Arbeit integrieren statt in Berlin lange Debatten darüber zu führen, wie wir sie zurückschicken können. Und ja, wir haben Probleme beim Wohnraum, aber wir machen gerade die Migration dafür verantwortlich."

Dieser Artikel ist am 11.November veröffentlicht und am 21.Dezember aktualisiert worden.