Milan Kundera wird Staatsbürger Tschechiens
3. Dezember 2019Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik hatte Milan Kundera die Staatsbürgerschaft 1979 entzogen, nach der Veröffentlichung seines Romans "Das Buch vom Lachen und Vergessen", in dem sich tschechoslowakische Bürger gegen die Regierung stellen. In seinem Heimatland war das Buch schon nicht mehr erschienen, zu jenem Zeitpunkt lebte der Schriftsteller bereits seit vier Jahren im französischen Exil. Die Staatsbürgerschaft Frankreichs nahm er schließlich 1981 an.
Der tschechische Botschafter in Frankreich, Petr Drulak, sagte der Tageszeitung "Právo", er habe Kundera die Urkunde am Donnerstag vergangener Woche überreicht. Kundera sei erfreut gewesen und habe ein starkes "Gefühl der tschechischen Identität", sagte Drulak. Die Idee, ihm die Staatsbürgerschaft zu verleihen, gehe auf den tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babis zurück, der sich vor einem Jahr mit Kundera in Paris getroffen hatte. Vom 90-jährigen Schritsteller gab es bislang keinen Kommentar.
Mit Schicksal nie gehadert
Kunderas Bücher handeln von Menschen, ihren Gedanken, Gefühlen und Absichten. Seine Spezialität aber sind Beziehungsromane. Der bekannteste, "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", erzählt die Geschiche einer Dreiecksbeziehung vor der Kulisse des Prager Frühlings. Das Epos hat Kundera 1984 schlagartig weltbekannt gemacht.
Interviews beantwortet Kundera - wenn überhaupt - nur noch schriftlich, Übersetzungen seiner Bücher lässt er prüfen und überarbeiten. Der Autor lebt zurückgezogen. Mit seinem Schicksal hat er offenbar nie gehadert: "Es gibt diesen Traum von einer Rückkehr nicht", sagte er einmal in einem Interview mit der "Zeit". "Ich habe mein Prag mitgenommen, den Geruch, den Geschmack, die Sprache, die Landschaft, die Kultur." Die Tschechen mussten auf eine Rückkehr länger warten, es wurde eine literarische: Erst ab den 1990er Jahren erschienen Kunderas spätere Romane auf Tschechisch; das bekannteste Werk, "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", sogar erst 2006.
Sozialistische Schauplätze
Nicht nur die tschechische Kultur prägte Milan Kundera, sondern mehr noch das Sich Zurechtfinden als Schriftsteller im Sozialismus. Als Abiturient trat er 1948 enthusiastisch in die Kommunistische Partei ein, zwei Jahre später schloss sie ihn wegen "feindlichen Denkens und individualistischer Neigungen" wieder aus. Das hatte Folgen: Kundera musste sein Studium unterbrechen, das er gerade erst begonnen hatte, zunächst Musik- und Literaturwissenschaft, dann Regie und Drehbuch an der Filmakademie.
Sein Debüt als Schriftsteller gab er 1953 mit dem Gedichtband "Der Mensch - ein weiter Garten". Und schon darin setzte er sich, jedoch in kommunistischer Grundhaltung, mit dem sozialistischen Realismus auseinander. Später sollte er erneut der Kommunistischen Partei beitreten - und abermals ausgeschlossen werden, eine schwierige Beziehung.
Die "individualisierten Neigungen", die ihm die KP beim ersten Rauswurf vorwarf, wurden spätestens ab den 1960er Jahren zum Knackpunkt: Kundera schrieb humoristische Erzählungen, die 1970 als Gesamtausgabe im "Das Buch der lächerlichen Liebe" erschienen. Die meist tragischen Geschichten bewegen sich in dem Kundera-typischen Spannungsfeld aus Liebe und Politik, Humor und Ernst, Leichtigkeit und Melancholie. Mit der gewaltsamen Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 wurde der Autor zur Persona non grata. Als Verfechter des Reformkommunismus wurde er 1969 aus dem Verband der Schriftsteller und 1970 erneut aus der Partei ausgeschlossen, seine Lehrtätigkeit an der Filmakademie unterbunden, seine Theaterstücke vom Spielplan gestrichen, seine Publikationen verboten und aus dem Buchhandel entfernt.
Französisches Exil
Doch Kundera schrieb weiter, ohne Rücksicht auf die Zensur. Er rechnete mit seiner kommunistischen Vergangenheit ab - in "Das Leben ist anderswo" (1973) und in "Abschiedswalzer" (1976). Der Autor wusste, dass er in der Tschechoslowakei nicht veröffentlicht werden würde. Beide Werke erschienen stattdessen in Frankreich, dem Land, das ihm 1975 dank eines Lehrauftrags in Rennes und später in Paris Zuflucht bot.
Auch im Exil trieb Kundera seine literarischen Themen voran, und auch weiter vor tschechoslowakischer Kulisse. Da bereits des Landes verwiesen, blieb der sozialistischen Führung 1978 nur noch der Entzug der Staatsbürgerschaft, als "Das Buch vom Lachen und Vergessen" erschien. Als Kundera 1984 "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" herausbrachte, landete der Roman weltweit auf den Bestsellerlisten und machte Kundera zum Star. Der Roman wurde später mit Juliette Binoche und Daniel Day Lewis in den Hauptrollen erfolgreich verfilmt.
Es war das rechte Buch zur rechten Zeit. Spätere Werke wie "Die Unsterblichkeit", "Die Langsamkeit", "Die Identität" und "Die Unwissenheit" fanden zwar ebenfalls Beachtung, reichten an frühere Erfolge aber nicht heran. "Die Langsamkeit" und alle weiteren Bücher formulierte Kundera auf Französisch. Einigen Literaturkritikern waren diese Romane zu philosophisch und essayistisch, andere lobten den Autor als wegweisenden Moralisten, als Kritiker der westeuropäischen Zivilisation und Postmoderne.
Ein Verräter?
Dann holte ihn noch einmal der Sozialismus ein: 2008 wurde der Vorwurf laut, Kundera habe 1950 einen Oppositionellen verraten, der daraufhin mehrere Jahre im Arbeitslager verschwand. Angeblich belegte ein Protokoll der tschechischen Geheimpolizei die Aussage.
Doch war es wirklich Kundera, der diese Aussage gemacht hatte? Oder hatte sich ein anderer als Milan Kundera ausgeben? "Ich bin völlig überrumpelt von etwas, das ich nicht erwartet habe, von dem ich noch gestern nicht einmal etwas wusste und das nicht passiert ist", sagte der Schriftsteller damals der tschechischen Nachrichtenagentur. Tatsächlich fehlt unter dem Dokument seine Unterschrift.
Heute gibt Kundera dazu keine Stellungnahmen mehr. Nach Tschechien reist er inkognito, allerdings hielt er dies schon vor dem Vorwurf des Verrats so. Als ein Akt später Aussöhnung trug ihm der tschechische Regierungschef Andrej Babis erst kürzlich wieder die tschechische Staatsbürgerschaft an. Bisher hat sich Kundera dazu nicht geäußert.
Alterswerk des Romanciers
2014 schließlich erschien nach mehr als zehnjähriger Pause Kunderas Roman "Das Fest der Bedeutungslosigkeit". Darin flanieren vier Männer durch Paris und erzählen - in bekannt humorvoller und tragischer Kundera-Manier - von persönlichen Hindernissen. Das langersehnte Buch verkaufte sich europaweit erfolgreich, die Kritiker indes waren hin- und hergerissen. Die einen lobten den Roman als "Meisterwerk", andere sprachen von einem "verkrampften Alterswerk". Es könnte sein letztes Werk bleiben. Am 1. April 2019 beging der Kultautor seinen 90. Geburtstag.