Türkei: Europas Partner oder ein unkalkulierbares Risiko?
21. März 2025
Angesichts der zunehmenden Unsicherheit über die Rolle der USA als verlässlichen Partner, fragen sich die europäischen Länder immer mehr, wie sie sich selbst verteidigen können. Auf zahlreichen Gipfeltreffen suchen sie nach gemeinsamen Antworten.
Um die notwendigen Investitionen in die Verteidigung zu ermöglichen, lockert die Europäische Union sogar ihre strengen Fiskalregeln und richtet einen europäischen Rüstungsfonds zur Finanzierung gemeinsamer Projekte ein. Europa befindet sich in einer Umbruchsphase, will seine militärischen Kapazitäten massiv ausbauen. Laut dpa entschieden die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Frühjahrsgipfel am Donnerstagabend, alles daranzusetzen, um Europas Verteidigungsbereitschaft in den nächsten fünf Jahren entscheidend zu stärken.
In diesem Kontext positioniert sich die Türkei mit Nachdruck. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan unterstrich kürzlich beim Besuch des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk in Ankara die Ambitionen seines Landes. Die Türkei strebe weiterhin die EU-Vollmitgliedschaft an . Er sei überzeugt, dass die EU "ihren aktuellen Machtverlust" in Zeiten globaler Sicherheitsherausforderungen nur in enger Zusammenarbeit mit der Türkei verhindern könne.
Außenminister Hakan Fidan formulierte es noch deutlicher: Eine neue europäische Sicherheitsarchitektur ohne die Türkei sei undenkbar. Fidan, bekannt für seine enge Verbindung zu Erdogan, führt derzeit intensive diplomatische Gespräche. Innerhalb weniger Wochen empfing er den russischen Außenminister Sergej Lawrow in Ankara und nahm am Ukraine-Gipfel in London teil. Zuvor hatten russische und US-amerikanische Diplomaten in Istanbul Gespräche zur Normalisierung ihrer Beziehungen geführt.
Die Türkei: Militärische Stärke zwischen Europa und Asien
Die Türkei, strategisch günstig zwischen Europa und Asien gelegen, verfügt über eine beachtliche militärische Kraft. Laut dem aktuellen Bericht der Plattform Global Firepower belegt ihr Militär den neunten Platz im weltweiten Ranking der stärksten Armeen und lässt damit Nationen wie Italien, Deutschland und Israel hinter sich.
Die türkischen Streitkräfte umfassen dem Bericht zufolge etwa 884.000 Soldaten, darunter 355.200 aktive Soldaten. Hinzu kommen 380.000 Reservisten. Die türkische Luftwaffe verfügt über mehr als 940 militärische Luftfahrzeuge, von denen rund 200 Jagdflugzeuge sind. Mit über 2.230 Kampfpanzern besitzt die Türkei die zweitgrößte Panzerflotte innerhalb der NATO, direkt nach den USA mit 4.640 Panzern. Auch ihre Marine ist mit 13 U-Booten gut aufgestellt.
In den vergangenen Jahrzehnten verfolgte die Türkei konsequent das Ziel, ihre Verteidigungsindustrie vom Ausland unabhängig zu machen. Hintergrund waren wiederholte Sanktionen westlicher Staaten, die oft zu Versorgungsengpässen bei den türkischen Streitkräften führten. Verzögerungen bei Modernisierungen, Wartungen und der Produktion eigener Waffensysteme waren die Folge.
Die langfristigen Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie der Ausbau der heimischen Rüstungsindustrie zahlen sich nun aus. "2002 lag der Anteil der türkischen Produkte bei 20 Prozent, letztes Jahr haben wir die 80-Prozent-Marke erreicht", verkündete kürzlich Professor Haluk Görgün, Leiter der staatlichen Agentur für Verteidigungsindustrie (SSB). Seinen Angaben nach zählte die Branche im vergangenen Jahr über 2.400 Unternehmen mit fast 100.000 Beschäftigten. Die Türkei habe Drohnen, Kampfpanzer, Waffensysteme, Schiffe und weitere Rüstungsgüter in 180 Länder exportiert und mit einem Exportvolumen von 7,1 Milliarden US-Dollar die eigenen Ziele übertroffen.
Abnehmer ihrer Rüstungsgüter sind viele Staaten in Afrika, am Arabischen Golf, in Asien und Europa. Seit einem Jahr hat Ankara auch Lateinamerika im Visier. Das Land exportiert Waffen auch in Länder mit autoritären Regimen und Regionen, die von Konflikten betroffen sind.
Umfangreiche Reformen in der Rüstungsindustrie
Dr. Jens Bastian forschte bis Ende 2024 an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin unter anderem zur türkischen Rüstungspolitik. Er beobachtet, welchen Wandel das Land vor allem unter der islamisch-konservativen Regierungspartei von Erdogan durchlaufen hatte. Die Türkei habe ihre Rüstungsindustrie tiefgreifend reformiert, finanziell neu organisiert und ein System geschaffen, das Universitäten, Start-ups und Forschungszentren mit dem Militär verbinde, sagt er.
Als Beispiel dafür nennt er das Unternehmen Baykar von Erdogans Schwiegersohn Selcuk Bayraktar. Er habe mit der Entwicklung von militärischen und zivilen Drohnen globale Exporterfolge erzielt. Ihre militärische Einsatzfähigkeit sei in der Ukraine, in Libyen, in Nagorny-Karabach und zuletzt in Syrien unter Beweis gestellt, so Bastian weiter.
Anfang März unterzeichnete Baykar mit dem italienischen Rüstungskonzern Leonardo einen Vertrag zur gemeinsamen Entwicklung von Drohnen. "Auch Indonesien plant eine Kooperation mit der Türkei bei der Drohnenproduktion. In der Ukraine werden sie bereits produziert", fügt der Experte hinzu.
Vergangene Woche meldete auch die Rüstungsfirma STM einen Erfolg: Sie erhielt den Auftrag der portugiesischen Marine zum Bau von zwei Seeversorgungs- und Logistikunterstützungsschiffen. Dies markiert den ersten Export türkischer Militärschiffe in ein EU- und NATO-Land.
Die Türkei hat trotz ihrer Erfolge weiterhin Schwachstellen in der technologischen Produktion, insbesondere bei Mikrochips und Quantentechnologie, die sie von NATO-Partnern importieren muss, so Experte Bastian.
Die Rolle der SBB
Für den Aufstieg der Türkei zu einer Exportmacht im Rüstungssektor spielte die Agentur für Verteidigungsindustrie (SSB) eine entscheidende Rolle. Die 2018 direkt dem Staatspräsidenten Erdogan unterstellte Behörde kann durch ein Sondervermögen umfangreiche Investitionen in die Modernisierung und Entwicklung neuer Technologien für die Streitkräfte tätigen. Dies führte auch zu einem deutlichen Wachstum der heimischen Rüstungsindustrie.
Wirtschaftsexperte Bastian sieht den Ausbau der Rüstungsindustrie als Mittel der Außen- und Wirtschaftspolitik Ankaras. Durch ihre militärischen Exporterfolge habe sich die Türkei zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten entwickelt.
Er ist der Meinung, dass die europäische Sicherheitsarchitektur durch die Türkei mitdefiniert wird. Angesichts des Gestaltungsspielraums der Türkei in Fragen der Migrationspolitik, der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsoptionen in Syrien und ihrer regionalpolitischen Bedeutung im östlichen Mittelmeer sowie im Schwarzmeer habe sich das Land als eine mittlere Macht positioniert, die von der EU, ihren NATO-Partnern und China in deren strategisches Kalkül einbezogen werden müsse.
Davon könne Erdogan auch innenpolitisch profitieren. So hätten europäische Spitzenpolitiker ihre Kritik an den wachsenden Demokratiedefiziten in der Türkei zuletzt deutlich weniger lautstark vertreten. "Dieses Schweigen schwächt die verbliebenen politischen Gestaltungsräume türkischer Oppositionsparteien und Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Organisationen", sagt Bastian.
Bisher ist unklar, ob die Türkei beim Aufbau der europäischen Sicherheitsarchitektur eine Rolle spielen wird. Nach jüngsten Plänen der EU-Kommission können türkische Firmen von dem 150 Milliarden Euro schweren EU-Aufrüstungsfonds nur dann profitieren, wenn die Türkei eine Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft mit der EU unterzeichnet hat.