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Politik

Mutterseelenallein in Griechenland

Marianna Karakoulaki | Dimitris Tosidis
1. Oktober 2019

Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, steigt an. Einrichtungen, die sich um diese Kinder und Jugendlichen kümmern, sind an der Belastungsgrenze.

Minderjährige Flüchtlinge in Griechenland neu
Bild: DW/Dimitris Tosidis

Als sie acht Jahre alt war, flüchtete Firuzeh*. Ohne ihre Eltern, aber mit deren Zustimmung, verließ sie den Iran, floh mit einer Frau aus Afghanistan über die Türkei nach Griechenland: zunächst zur Insel Lesbos, dann weiter aufs griechische Festland, wo sie schließlich in Thessaloniki landete. Dort lebt Firuzeh bis heute. "Ich war überrascht, Frauen in der Öffentlichkeit ohne Schleier zu sehen; es war das erste Mal, dass ich das sah", schildert sie ihre Eindrücke von der Ankunft in Griechenlands zweitgrößter Metropole. "Ich war auch sehr überrascht von den Graffitis an den Wänden, denn das ist im Iran nicht erlaubt."

Firuzeh verließ ihre Heimat 2012, also deutlich vor Beginn der Flüchtlingskrise. Denn Griechenland ist schon lange Ziel von Menschen, die aus dem Nahen und Mittleren Osten vor Krieg und Gewalt nach Europa fliehen. Einrichtungen, um die Menschen unterzubringen, entstanden aber größtenteils erst ab 2015. Immerhin gab es auch damals schon Unterkünfte für Kinder. Das Haus Arsis, in dem Firuzeh jetzt lebt, gehört dazu.

Aus der 2007 eröffneten Notunterkunft am Rande von Thessaloniki wurde eine Dauereinrichtung. Insgesamt 317 Kinder, die Opfer von Missbrauch oder Vernachlässigung wurden, fanden dort bislang Unterschlupf: griechische Jungen und Mädchen, aber auch minderjährige Flüchtlinge. 20 Kinder leben dort dauerhaft und es gibt drei Notfallplätze, die jederzeit belegt werden können.

Das Haus Arsis ist nun schon seit mehreren Jahren Firuzehs Zuhause. Ein Ort, an dem sie sich sicher fühlt. So sicher, dass sie hier ihren Hobbies nachgehen kann, etwa beim Hip-Hop-Tanzkurs.

Unsichere Zukunft

Eine Weile nach der Ankunft in Griechenland, begann das iranische Mädchen in Thessaloniki auf die Grundschule zu gehen, wurde aber ein paar Jahre jünger eingestuft, als sie wirklich war: Die griechischen Behörden erklärten sie zur Fünfjährigen. "Ich hatte einen Lehrer, der mir das griechische Alphabet beibrachte", erzählt Firuzeh vom Anfang ihrer dortigen Schullaufbahn. "Also habe ich die Sprache schnell gelernt." Ihr Lieblingsfach ist jetzt Geschichte: "Weil man aus Fehlern der Vergangenheit lernen und sie in Zukunft vermeiden kann."

Flüchtling Firuzeh: "Ungewissheit, ob die Leute dich akzeptieren"Bild: DW/Dimitris Tosidis

Trotz Positivbeispielen wie dem von Firuzeh ist die Zukunft der Einrichtungen zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Griechenland ungewiss. Weil die Mittel knapp sind, ist deren weitere Finanzierung durch den Staat gefährdet. Nach all den Jahren der Krise würden die Dinge nicht so funktionieren, wie sie sollten, klagt Marianna Kolovou. "Es gibt nicht genug Unterkünfte, es gibt nichts für diese Menschen", sagt die Sozialarbeiterin und Koordinatorin im Haus Arsis.

Unzureichende Unterkünfte für Minderjährige

Dabei kommen in Griechenland derzeit wieder mehr Kinder und Jugendliche an, die auf sich allein gestellt sind - was möglicherweise auch jahreszeitlich bedingt ist. Fest steht, dass schon jetzt mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Land leben als ordentlich untergebracht werden können. Ende August waren es insgesamt knapp 4400 Jungen und Mädchen. Landesweit gibt es aber nur 1900 Plätze, um sie angemessen zu betreuen. Aufgrund fehlender Einrichtungen kommen viele in Gewahrsam: entweder in Krankenhäusern oder sogar in Gefängnissen. Und sie bleiben dort oftmals länger, als es die griechische Rechtslage eigentlich zulässt.

Diese Praxis hat auch schon den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf den Plan gerufen: Griechenland sei mit fünf unbegleiteten minderjährigen Migranten unmenschlich und erniedrigend umgegangen, urteilten die Straßburger Richter im Juni. Das Recht der jungen Flüchtlinge auf Freiheit und Sicherheit sei verletzt worden, so der EGMR, weil sie in Polizeistationen unter "Schutzhaft gestellt" worden seien.

Flüchtlingslager Moria auf Lesbos: "Mehr psychologische Notfälle"Bild: DW/D. Tosidis

Ali* aus Marokko kam über Libyen nach Griechenland. Der Schutzhaft entging er nur, weil er gegenüber den Behörden behauptete, in Begleitung von Verwandten unterwegs zu sein. Statt im Knast landete er dann auf der Straße und schlug sich als Obdachloser durch: "Manchmal schlief ich in einem Flüchtlingslager bei Thessaloniki", berichtet Ali. "Andere Male übernachtete ich in Eisenbahnwaggons im Bahnhof." Dann lernte er einen Griechen und dessen Familie kennen, bei denen er eine Woche lang unterkommen konnte. Anfang Juni machte er sich dann wieder auf den Weg, fort aus Griechenland. Inzwischen ist Ali in Italien.

Für die wenigsten unbegleiteten Minderjährigen ist Griechenland das endgültige Ziel ihrer Flucht. Viele wollen so schnell wie möglich weiter in den Norden Europas, weil sie dort Verwandte haben.

Überfüllung und Protest

Während die Bedingungen auf dem Festland schlecht sind, ist die Lage in den "Hot Spots" auf den griechischen Inseln geradezu lebensgefährlich für minderjährige Migranten. Das gilt offenbar insbesondere für das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Ende August wurde dort ein 15-Jähriger aus Afghanistan von einem anderen Jugendlichen erstochen, als es im Minderjährigenbereich des Lagers zu einer Schlägerei gekommen war. Und bei einem Brand eines Wohncontainers in Moria starben Ende September eine Mutter und offenbar auch ihr Baby. Im Anschluss kam es in dem überfüllten Auffanglager zu Unruhen.

Sektion B, der Minderjährigenbereich, ist für 160 Kinder ausgelegt. Laut UNICEF hausen dort aber derzeit 520. Eine Zahl, die täglich steigt. Und auch in Sektion B nehmen die Proteste zu: Anfang September, zehn Tage nach der tödlichen Messerstecherei, forderten 300 Mädchen und Jungen ihre sofortige Verlegung in die Hauptstadt Athen. Die Polizei reagierte mit Tränengas.

Nach dem Tod des afghanischen Teenagers in Moria beschloss die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF), den anwesenden Kindern und Jugendlichen psychologische Hilfe anzubieten. Laut Katrin Brubakk, der Leiterin des MSF-Psychologenteams, war der Vorfall eine weitere traumatische Erfahrung für die Kinder im Lager.

"Wir haben jetzt viel mehr psychologische Notfälle", sagt Brubakk. Es gebe immer wieder schwere Panikattacken. Besonders ernst sei in Moria der Fall eines Mädchens. "Sie hat seit dem Vorfall kein Wort gesprochen, sie isst kaum." Wenn die Welt auf die Betroffenen zu beängstigend wirkt, zögen sie sich aus der Welt zurück, so Brubakks Diagnose.

Andererseits sind Flüchtlingskinder wie Firuzeh in Thessaloniki ein Hoffnungsschimmer. Die jugendliche Iranerin hat vielschichtige Pläne, will Psychologie studieren, träumt aber eigentlich davon, Schauspielerin oder Tänzerin zu werden. Flüchtlingskinder müssten damit klarkommen, plötzlich in einer total fremden Welt zu leben, beschreibt sie besonnen die Situation. "Als ich nach Griechenland kam, fühlte ich mich unwohl. Mit der Sprache, mit der Ungewissheit, ob die Leute dich akzeptieren werden." Aber die Umstände hätten sich seitdem verbessert, sagt Firuzeh.

*Name geändert

Hinweis: Die DW-Reporter Marianna Karakoulaki und Dimitris Tosidis wurden bei ihren Recherchen mit Mitteln des "Migration Media Award" gefördert, der von der Europäischen Union finanziert wird. Die EU weist daraufhin, dass die im Text wiedergegebenen Informationen und Aussagen nicht die Ansicht der Europäischen Union widerspiegeln. Weder Organe und Einrichtungen der EU noch in ihrem Namen handelnde Personen können für den Inhalt dieses DW-Artikels verantwortlich gemacht werden.