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Gesellschaft

Mini-Trauergruppe: "Leider keine Gäste"

21. Dezember 2017

Rund um Weihnachten fehlen verstorbene Mamas, Papas und Partner besonders. Viele reden vom Familienfest, in der eigenen Familie klafft eine schmerzliche Lücke. Wer eine Trauergruppe findet, ist damit nicht mehr allein.

Lavia Institut für Familientrauerbegleitung Gelsenkirchen Trauerbegleitung
Das lachende Gesicht hat sich Solveig auf dem Gefühls-Würfel ausgesucht, der immer rumgeht in der TrauergruppeBild: DW/A.Grunau

Die Kinder sind fröhlich aus dem überfüllten Gruppenraum gelaufen. Gerade noch saßen sie eng gedrängt auf Hockern, Kissen, dem Boden. Jetzt ist Platz und Ruhe für den Austausch der Eltern. Sie rücken zusammen. Alle duzen sich, man spürt große Aufmerksamkeit und Nähe, als sich Bernd an die Verzweiflung beim Tod seiner Frau erinnert: "Ich hatte fürchterliche Panik: Wie bring ich das den Kindern bei?" Seine Zuhörer nicken. Das Gefühl kennen sie. Es war Heiligabend, als Bernds Frau starb, auf der Intensivstation wusste man keinen Rat. Jemand gab ihm die Telefonnummer der Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper: "Am ersten Weihnachtstag hat sie zurückgerufen."

Der Vater fragte sie, wie er bloß seinen Zwillingen Florian und Franziska (5) erklären soll, dass die Mama tot ist. Sie habe ihm geraten, nicht drumrum zu reden und das aufzugreifen, was die Kinder mitbekommen haben, erinnert sich Bernd: "Nicht: Die Mama ist von uns gegangen. Sondern: Ihr habt gesehen, die Feuerwehr war da. Sie war ganz schlimm krank, man konnte ihr nicht mehr helfen. Dann ist sie gestorben." Ihm habe das sehr geholfen. Das ist vier Jahre her. Seine Kinder bestehen darauf, weiter zur Trauergruppe zu gehen.

"Meine Mama war eine fröhliche Mama" - so hat sich Franziska mit sechs Jahren an ihre verstorbene Mutter erinnertBild: DW/A.Grunau

Wie die Zwillinge und Bernd sind an diesem Nachmittag Kinder zwischen fünf und neun Jahren mit Mutter oder Vater zum Institut für Familientrauerbegleitung Lavia nach Gelsenkirchen gekommen. Der Eingang zur Praxis im ersten Stock liegt zwischen einem Versicherungsbüro und einem KfZ-Sachverständigen mit der Schaufenster-Frage "Unverschuldeter Unfall?" und dem Versprechen "Rundum-Service und Beratung". Hier gibt es Beratung für Familien, die auch einen "unverschuldeten Unfall" erlitten haben: Mama oder Papa sind viel zu früh gestorben.

Über den Tod reden dürfen, nicht müssen

Heute ist Mini-Trauergruppe. Bei der Eröffnungsrunde mit den Eltern im großen Kreis hatten viele Kinder auf dem Gefühls-Würfelstein, der immer rumgeht, den Smiley ausgewählt: "weil ich mich gefreut habe, dass wieder Trauergruppe ist." Während die Eltern sitzen geblieben sind, haben sich die Kinder in kleinen Gruppen in der Praxis verteilt. Mit den fünf Trauerbegleitern werden sie heute jeder eine eigene Trostsalbe anrühren, die helfen soll, Traurigkeit besser auszuhalten.

"Die denken, da sitzen zehn Kinder und heulen" - den Eltern begegnen viele Vorurteile über die Mini-TrauergruppeBild: DW/A.Grunau

Die Eltern tauschen sich darüber aus, auf welche Vorurteile sie stoßen, wenn sie Außenstehenden von der Trauergruppe erzählen: "Du zwingst dein Kind, über den Tod zu reden?" Sie wissen, dass Kinder hier über den Tod reden dürfen, aber nicht müssen. Die meisten Außenstehenden würden sich wohl beim Wort "Mini-Trauergruppe" schon gar nicht her trauen, vermutet Bernd: "Die denken, da sitzen zehn Kinder am Tisch und heulen alle." Jetzt lacht die ganze Elternrunde. Eine Mutter erklärt: "Das ist so eine fröhliche Runde, egal ob bei den Großen oder den Kleinen, das passt überhaupt nicht zum Namen." Andrea erzählt, was ihre Tochter zu ihren Freundinnen über die Trauergruppe gesagt hat: "Es ist total schade: Man darf leider keine Gäste mitbringen." Wieder lachen alle.

Spaghetti und Grashalme aus Glitzer

Im Flur vor dem Gruppenraum sitzen Mädchen auf dem Boden, die konzentriert mit Zahnstochern in kleinen Cremetöpfchen rühren. Sie mischen Duftöle und buntes Glitzerpulver in die Creme - "gegen Traurigkeit und fürs Glücklichsein". In der Wohnküche haben sich die Jungs mit den Trauerbegleitern Beate und Moritz an den Tisch gesetzt. Bernds Sohn Florian hat sich Orangenöl als "Gutelaune-Öl" ausgesucht. Es rieche genau wie die Erfrischungsstäbchen, die ihm seine Mutter immer gekauft hat, erzählt er. Die Trostsalbe wird ihn an sie erinnern.

Eine Trostsalbe, die mit Duft und Farben an die Mama erinnert: Florian (li.) und Ben erzählen Beate von ihren MütternBild: DW/A.Grunau

"Da fehlt noch Farbe", stellt er fest. Trauerbegleiterin Beate fragt: "Siehst du noch etwas, was dich erinnert?" "Grün", ruft Florian, "weil Mama Gärtnerin war".

Ben möchte sich merken, dass seine Mutter immer so gut gekocht hat. Spaghetti mit Tomatensauce mochte er am liebsten, darum wird seine Trostsalbe rot. Als er Glitzer einrührt, bilden sich Fäden, die aussehen wie Spaghetti. "Und ich habe Grashalme", sagt Florian.

Keine Angst vor Gefühlen

Trauer und Tod von Kindern fernzuhalten, sei keine gute Idee, warnt Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper: "Eltern, die sagen, meine Kinder sollen nicht traurig sein, schwächen sie fürs Leben." Es stärke Kinder, wenn sie lernten, über ihre Gefühle zu sprechen. In den Trauergruppen merkten sie, dass sie "völlig normal seien". Weil sie miteinander über alles reden könnten, würden sie reifer, selbstbewusster - und damit auch krisenfester.

Auch in der Elternrunde schätzt man die Trauergruppen. Hier müsse man sich nicht erklären oder rechtfertigen, wie manchmal im Alltag: "Hier kann ich sein, wie ich bin. Wenn ich wütend bin, bin ich wütend, wenn ich traurig bin, bin ich traurig. Das geht den Kindern wahrscheinlich nicht anders als den Erwachsenen."

"Auch ganz normal, weil auch einer tot ist"

Andrea denkt laut darüber nach, dass das Gesundheitssystem viel Geld gespart hätte und ihr auch einiges erspart geblieben wäre, wenn sie früher hierher gekommen wären: Ihre Tochter wurde nach dem Tod ihres Papas jede Woche zum Kinderpsychologen geschickt und zur Erziehungsberatung, auch sie sollte zum Psychologen. Für sie habe das keinen Sinn gemacht: "Ich sitze da alleine. Und er denkt, ich bin krank". Geholfen hätte das weder ihr noch ihrer Tochter, sagt sie: "Was mein Kind brauchte, waren andere Kinder, die auch ganz normal sind, weil auch einer tot ist." Seit sie zur Trauergruppe gingen, gehe es ihnen besser. Hier wird auch darüber gesprochen, was das Leben - trotzdem - lebenswert macht.

Kindern und Eltern sammeln bei Lavia "gute Gründe für das Leben"Bild: Lavia

Im Umgang mit Trauernden sind viele unsicher, erzählen die verwitweten Eltern. Dafür haben sie Verständnis. Auch für sie sei es belastend, immer wieder alles erklären zu müssen im Kindergarten, der Schule, am Arbeitsplatz.

Es gebe aber auch Äußerungen, die verletzten. Er mache "viel zu viel Geschiss darum", musste sich ein verwitweter Vater von Kollegen anhören, das habe man früher auch nicht gemacht. Er hat zuhause einen Boxsack aufgehängt, für sich und seine Töchter. Was sollte man Trauernden nie sagen? "Es ist doch schon so lange her, jetzt ist auch mal gut", sagt eine Mutter, dieser Spruch "sollte verboten werden".

Herzklopfen vor dem Trauerbesuch

Zehn Jahre ist es her, seit der Vater von Leandra gestorben ist. Sie war damals 11 Jahre. Die Trauergruppe war für sie ein Ort, "wo man sich austauschen kann und keine Angst haben muss, Fragen zu stellen", erinnert sie sich. Heute ist sie 21 und hat selbst eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht, "um Kinder und Jugendliche in der Situation zu unterstützen, in der ich selbst war". Sie trifft regelmäßig einen Jungen, dessen Vater gestorben ist und ein Mädchen, deren Vater sterbenskrank ist. Die Arbeit gebe ihr viel, sagt sie abends bei der Lavia-Teamsitzung: "Das ist so bereichernd, man erfährt totale Dankbarkeit."

Trotz der eigenen Erfahrungen hatte sie einmal Herzklopfen vor einem Trauerbesuch. Mechthild Schroeter-Rupieper hatte ihr gesagt, dass sie zusammen in eine Familie gehen, "wo der Vater die Mutter ermordet hat. Ich hatte so Angst." Doch es sei gar nicht so schwierig gewesen wie befürchtet: "Das ist eine total wertvolle Erfahrung, dass man sich Dinge viel schlimmer vorstellt, als sie im Endeffekt sind."

Wohin gehen die Toten? Dieses Bild hat Trauerbegleiterin Leandra nach dem Gottesdienst für eine ermordete Mutter gemaltBild: Lavia

Leandra begleitete die Töchter der getöteten Mutter auch bei der Beerdigung. Sie stand mit ihnen in der Kirche neben dem Sarg, als eines der Mädchen einen Brief vorlas: eine Art Liebeserklärung an ihre Mutter. In der Predigt sagte die Pastorin, die Mutter sei "aus einer Hand Gottes in die andere Hand Gottes" gekommen. Leandra hat ein Bild dazu gemalt.

"Weihnachten ohne dich"

Die trüben Tage im November und Dezember, wenn es früh dunkel wird und Weihnachten vor der Tür steht, fürchten viele Trauernde, sagt Schroeter-Rupieper. Am letzten Sonntag vor Weihnachten bereitet Lavia mit der benachbarten Kirchengemeinde immer einen Gottesdienst vor für alle, die um jemanden trauern. "Trauer ist ein Gefühl von Menschlichkeit, lassen wir uns anstecken", begrüßt die Trauerbegleiterin diesmal die Besucher: "Auch Freude fühlt sich mit anderen gemeinsam besser an. Wer Trauer zulässt, schafft in sich auch einen Raum für Freude."

"Hätte ich gewusst, dass du stirbst" - wie Emilia in diesem Brief fürchten viele Kinder, Papa oder Mama zu vergessenBild: Lavia

Im Gottesdienst werden Aussagen von Trauernden verlesen: "Wenn ich gewusst hätte, dass du stirbst, Papa, dann hätte ich dich noch einmal fest in den Arm genommen, dir einen Kuss gegeben und gesagt, dass ich dich unendlich doll lieb habe und immer lieb haben werde." Am Schluss liest Emilia (8) vor: "Ich vermisse dich, Papa!" Ihr Vater kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, als sie vier war. Sie dankt denen, die ihr helfen, die Erinnerung lebendig zu halten: Familie, Freunde und Menschen "wie du Mechthild oder meine Klassenlehrerin": "Ich darf traurig sein und ich darf glücklich sein."

"Richtig doll geweint - das hat mir gutgetan"

In der Abschlussrunde der Mini-Trauergruppe fragt Mechthild Schroeter-Rupieper die Kinder am Küchentisch, ob ihnen Traurigkeit manchmal gut tue. "Ja", sagt Solveig leise, "weil ich dann ganz viel mit der Mama kuschele". Auch die Jungen können sich hier sicher fühlen, nicht als Heulsuse verspottet zu werden. Marvin erzählt: "Auf der Beerdigung von meiner Mama haben wir ein Lied gehört, das macht mich traurig. Dann haben wir es einmal im Wohnzimmer gehört und dann haben ich und meine Geschwister und mein Papa richtig doll geweint. Das hat mir richtig gut getan."

"Eine sehr lebendige Arbeit" - Mechthild Schroeter-Rupieper (li.) arbeitet seit 25 Jahren als FamilientrauerbegleiterinBild: DW/A.Grunau

Die Mini-Trauergruppe ist der Ort, an dem sie sich über solche Erfahrungen austauschen. Es sei aber nicht so, dass hier alle sitzen und weinen, sagt Florian und bestätigt genau das, was sein Vater Bernd und die anderen Eltern schon gesagt haben: "Wir machen Sachen miteinander und reden über die Verstorbenen. Wir machen uns gegenseitig Mut."

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