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Mirjam Pressler über "Das Tagebuch der Anne Frank"

Heike Mund4. März 2015

1933 flüchtete die jüdische Familie Frank vor den Nazis. 1945 starb Anne Frank im KZ. Das "Tagebuch der Anne Frank" ist weltbekannt. Das war nicht immer so, sagt Schriftstellerin Mirjam Pressler, die es übersetzt hat.

Schriftstellerin Mirjam Pressler (Copyright: DW/Heike Mund)
Bild: DW/H. Mund

DW: Frau Pressler, Sie haben die Neuübersetzung des Tagebuchs und auch eine Biografie über Anne Frank speziell für Jugendliche geschrieben. Was macht dieses Tagebuch so besonders, dass es bis heute weltweit Interesse findet?

Miriam Pressler: Es haben damals ja auch andere Kinder und Jugendliche Tagebuch geschrieben, es sind aber oft nur Bruchstücke von Tagebüchern erhalten geblieben. Das ist das einzige Tagebuch, das zwei ganze Jahre umfasst. Anne lebte in einer sehr privilegierten Familie. Normalerweise sind bei untergetauchten jüdischen Familien Kinder und Eltern getrennt worden und haben oft die Adresse gewechselt. Die Franks waren zwei Jahren lang an einem Ort in diesem Amsterdamer Hinterhaus zusammen. Und das ist schon etwas Besonderes.

Und Anne konnte schreiben. Sie hat gut geschrieben. Und sie hat etwas, was man bei Jugendlichen sonst eher selten findet: Sie hat es geschafft, Szenen in Geschichten zu verwandeln – mit Anfang, Hauptteil und Schluss. Sie hatte da eine große Begabung. Und ist zur Schriftstellerin geworden in diesen zwei Jahren. Anne hat in diesen zwei Jahren eine Entwicklung durchgemacht: Von dem Kind, das sie war, als sie untergetaucht ist, hin zu einer jungen Frau. Und das hat sie sehr, sehr deutlich beschrieben.

War das Tagebuch gleich nach seiner Erstveröffentlichung in den 50er-Jahren auch schon so erfolgreich?

Ihr Vater, der einzige von der Familie, der überlebt hat, hat nach seiner Rückkehr aus Auschwitz eine Leseausgabe zusammengestellt, die dann 1948 in den Niederlanden erschien und 1950 in Deutschland. Das war zu einem Zeitpunkt, als es sonst noch nichts zu diesem Thema gab. Damals hat keiner das Tagebuch eines jüdischen jungen Mädchens gewollt. Alle großen Verlage in Europa haben das Tagebuch abgelehnt. In den Niederlanden war es ein ganz kleiner Verlag, der es gedruckt hat. Und in Deutschland war es ein kleiner Verlag in Heidelberg, der das Tagebuch dann in deutscher Übersetzung gedruckt hat.

Erst durch den Erfolg des Theaterstücks, das aus Amerika kam und dort am Broadway lief, wurde es auf einmal weltberühmt. In Deutschland hat das eingeschlagen, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Die Leute sind in das Theater geströmt, weil sie das alles nicht wussten. Danach wurde sie überall ganz schnell zum Symbol für die 1,5 Millionen Jugendlichen und Kinder, die von den Nazis umgebracht worden waren.

Foto aus glücklichen Kindertagen: Anne mit ihren jüdischen Freundinnen in der Montessorischule in AmsterdamBild: Anne-Frank-Fond, Basel

Was wollen die Jugendlichen denn heute von Anne Franks Geschichte wissen? Hat sich das verändert im Laufe der Jahre?

Gar nicht so sehr. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Jugendlichen heute noch interessierter sind als in der Generation davor. Natürlich nicht alle, das ist ganz klar. Aber früher haben sich auch nicht alle für dieses jüdische Thema interessiert. Heute merken die Kinder und Jugendlichen einfach, dass es um etwas wirklich Existentielles geht. Und nicht darum, ob man jetzt shoppen geht oder sonst was.

Was für Fragen kommen da bei Ihren Lesungen?

Zum Beispiel, wie dieses Mädchen tatsächlich gelebt hat. Was sie empfunden hat. Wie sie mit dieser eingeschränkten Form des Lebens in dem Versteck in diesem Hinterhaus zurechtgekommen ist.

Die erste Seite des weltberühmten Tagebuchs beginnt mit dem Datum: 12. Juni 1942Bild: DW/H. Mund

Warum funktionieren diese Tagebuch-Geschichten eines jüdischen Mädchens aus Frankfurt, das mit seinen Eltern und seiner Schwester aus Nazideutschland nach Amsterdam flüchten musste, noch heute? Weshalb wird es von Jugendlichen auf der ganzen Welt so begeistert gelesen?

Im Grunde ist es ein Pubertätsbuch, wie wir es besser nicht finden könnte. Ich habe nie etwas Ähnliches gelesen. Wenn ein erwachsener Mensch über eine Pubertät schreibt - egal ob es eine erfundene ist oder die eigene - dann ist alles schon geklärt, verändert, anders durchdacht. Und gefärbt von dem, was man später erlebt hat. Und das fehlt bei Anne Frank natürlich. Sie hat es wirklich in der Zeit ihres Erwachsenwerdens geschrieben.

Warum hat die Familie Frank sich in Amsterdam sicher gefühlt? Im benachbarten Deutschland wurden schon die Scheiben der jüdischen Geschäfte eingeschlagen…

Amsterdam und die Niederlande galten als sicher. Die Niederlande waren im Ersten Weltkrieg so neutral wie die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Es hat keiner damit gerechnet, dass Hitler halb Europa überfallen würde. Und als sie gemerkt haben, dass es gar nicht sicher ist, da war es zu spät. Sie haben es nicht mehr geschafft, rauszukommen. Otto Frank hat noch versucht, Visa für Amerika oder Südamerika zu bekommen, aber es ist ihm nicht mehr gelungen. Da waren die Deutschen schon eingefallen, das Land besetzt und die Grenzen waren dicht.

Mirjam Pressler hat auch eine Jugendbiografie über Anne geschrieben.Bild: S. Fischer Verlag

Inwieweit mischen Sie bei Ihren Lesungen private Lebensgeschichte und Historisches? Das sind zum Teil auch brutale Fakten. Muss man das dosieren, damit Kinder und Jugendliche das verkraften?

Ich finde, dass man das unbedingt dazu erzählen muss. Und dass man nicht aufhören darf mit: 'Hier endet Annes Tagebuch'. Das ist mir zu wenig. Und ich versuche auch klarzumachen, wie verfahren die Situation damals war. Zum Beispiel gibt es einen offenen Brief von einem Rabbiner, der wirklich dafür plädiert, dass alle Juden bleiben. Da kommt dieser Satz drin vor: 'Kein deutscher Jude darf in dieser Zeit fahnenflüchtig werden.' Es graust einen, wenn man sowas hört. Aber die Franks haben es nicht geglaubt und sind gegangen.

Erst in diesem Jahr wird der erste deutsche Kinofilm über Anne Frank gedreht - bislang gab es nur amerikanische Filmproduktionen. Warum hat das solange gedauert? Warum gibt es erst jetzt eine deutsche Kinoproduktion?

Da habe ich keine Antwort. Aber ich kann Ihnen nur sagen, dass viele, viele Dinge ihre Zeit brauchen. Und gerade, was das Dritte Reich und auch die jüdische Geschichte betrifft: Es wurde in Deutschland so lange verschwiegen, wie es irgend ging. Genauso wie in Israel. Ich glaube, es müssen erst ein, zwei Generationen vergehen, bis die Leute reden.

Das Interview führte Heike Mund.


Mirjam Pressler ist eine der erfolgreichsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen ("Malka Mai", "Ein Buch für Hannah"). Meist schreibt sie über jüdische Lebensgeschichten. Als Übersetzerin hat sie sich weltweit einen Namen gemacht. Mehr als 300 Bücher aus dem Hebräischen, Englischen und Niederländischen hat sie ins Deutsche übersetzt, u.a. für Autoren wie John Steinbeck, Amos Oz und Zeruya Shalev. Als ihr Hauptwerk gilt die von ihr übersetzte "Kritische Werksausgabe" des Tagebuchs der Anne Frank. In diesem Jahr ist sie für den Deutschen Übersetzerpreis 2015 nominiert, der auf der Leipziger Buchmesse verliehen wird. Geboren am 18. Juni 1940, studierte Mirjam Pressler erst Kunst und dann Sprachen und lebte für ein Jahr im Kibbuz in Israel. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.

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