Das dunkle Erbe der sexuellen Befreiung
16. Juni 2020"Unser Leben ist versaut", sagt Marco, der seinen vollen Namen nicht nennen will. Marco ist ein sympathischer, jugendlicher Typ. Man sieht ihm seine 40 Jahre nicht an. Auch nicht, dass er, seit er neun Jahre alt war, bei einem pädophilen Pflegevater jahrelang sexuell missbraucht wurde.
Das Besondere an dem Fall: Berliner Behörden, die für Marcos Schutz zuständig waren, sind Hinweisen auf den Missbrauch nicht nachgegangen oder haben ihn sogar billigend in Kauf genommen.
"Das kannst du nicht mehr aufholen", sagt der gleichaltrige Sven. Sven war bei dem selben Pflegevater untergebracht, dem vorbestraften Fritz H. Auch wenn man es den beiden nicht ansieht: Gewalt und Missbrauch haben etwas in ihnen zerstört, sie konnten im Leben nie richtig Fuß fassen, sind beide auf staatliche Hilfe angewiesen.
Opfer fordern Aufklärung
Aber weiter kämpfen wollen sie trotzdem: Dafür, dass die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Fritz H. allerdings ist 2015 gestorben.
Marco und Sven stehen im hellen, warmen Licht der Nachmittagssonne vor einem Restaurant in Berlin-Mitte. Eben ist die Pressekonferenz zu Ende gegangen, die endlich Licht ins Dunkel der Verantwortlichkeiten bringen sollte.
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Ein Forscherteam der Universität Hildesheim stellte einen Bericht vor, den es im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie angefertigt hatte. Es ist jene Behörde, die, obwohl sie damals anders hieß, für den Schutz von Marco und Sven zuständig gewesen war.
Wissenschaftliche Begleitung als Deckmantel
Die Forscher konnten die Akten der Pflegestelle Fritz H. einsehen, bei der neben Marco und Sven im Zeitraum zwischen 1973 und 2003 noch acht weitere Kinder und Jugendliche untergebracht wurden. Vermittelt wurden Fritz H. die Kinder von Berliner Jugendämtern.
In Gutachten angepriesen und geschützt wurde der pädophile Pflegevater von dem bei Jugendämtern und in der Berliner Senatsverwaltung in hohem Ansehen stehenden Pädagogik-Professor Helmut Kentler. Das Forschungsteam aus Hildesheim konstatiert nüchtern: "Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung." Man reibt sich die Augen und fragt sich erschüttert. Wie war so etwas möglich? Und handelt es sich um einen singulären Fall?
Missbrauch getarnt als sexuelle Befreiung
Leider nein. Denn das Liebäugeln mit Sex mit Kindern war seit den 60er Jahren lange Zeit en vogue in sich fortschrittlich verstehenden Kreisen in Deutschland. Und nicht nur dort, wie in Frankreich der aktuelle Skandal um den berühmten Schriftsteller Gabriel Matzneff zeigt.
In seinem 1974 erschienenen Essay "Die unter 16-jährigen" feierte er die körperliche Liebe mit Teenagern, die er auch selbst lebte. Niemand störte sich daran, so seien eben Künstler.
Erst jetzt, als eine seine früheren Geliebten (sie war damals 13) in einem Buch die ausbeuterische Beziehung von Mazneff zu ihr offenlegte, brach ihm seine Vorliebe das Genick. Mit großer Verspätung begann auch die Aufarbeitung der behördlich geförderten Berliner Missbrauchsfälle. Auch sie sind das dunkle Erbe einer falsch verstandenen sexuellen Befreiung.
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Sexualforscher als Kuppler
Helmut Kentler ist hier eine Schlüsselfigur. Heute erscheint er als dunkler Kuppler für Kinderschänder, lange Zeit aber galt er als Lichtgestalt, war er einer der angesehensten Sexualexperten der Republik.
Seine Erziehungsratgeber lagen bei vielen Eltern auf dem Nachttisch, er war gern gehörter und gesehener Experte in Radio und Fernsehen. Seine "emanzipierende Sexualerziehung" ging davon aus, dass auch Kinder schon sexuelle Wesen sind und ein Recht haben, ihre Sexualität auszuleben.
Die Befreiung der kindlichen Sexualität von repressiven Moralvorstellungen sollte Energien freisetzten, die in die politische Aktion und zu einer in seinen Augen nötigen echten Demokratisierung der deutschen Gesellschaft führen sollten.
1968: Aufbegehren gegen überkommene Moralvorstellungen
Es waren die späten 1960er Jahre: In Deutschland begann die junge Generation zu fragen, was ihre Eltern und Großeltern eigentlich in der Nazizeit gemacht hatten.
Alle Autoritäten und überkommenen Moralvorstellungen wurden kritisch hinterfragt: Die Utopie einer freien, von allen Fesseln befreiten Gesellschaft dämmerte auf. Heute kaum mehr vorstellbar: Im großen Rausch der Befreiung wurde sogar vorher Undenkbares denkbar. Dass nämlich auch Pädophile ihre Sexualität mit Kindern und Jugendlichen ausleben können sollten.
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Mit dem dunklen Erbe dieses Denkens kämpfen auch die Erben der 1968er, Deutschlands Umweltpartei, die Grünen.
Auf einem Parteitag in ihrer Frühphase debattierten sie vor vierzig Jahren die Streichung des Paragraphen 176, der Sexualität mit Kindern unter 14 Jahren unter Strafe stellte. Fünf Jahre später beschlossen die Grünen im Bundesland Nordrhein-Westfalen sogar, sich für Legalisierung von Sex von Erwachsenen mit Kindern einzusetzen- sofern es sich um "einvernehmlichen Sex" handele.
Institution als Tatort
Zwei Mitglieder der Berliner Grünen nahmen sich diese Freiheit auch ohne Gesetzesänderung. Sie nutzten eine Anlaufstelle für "Problemjugendliche" um mit Jugendlichen Sex zu haben.
Geradezu systemisch war der 2011 bekannt gewordene Missbrauch in der Odenwaldschule in Südwestdeutschland, die lange Zeit als Vorzeigeprojekt freiheitlicher Reformpädagogik galt.
Erzieher tolerierten den Alkoholgenuss von Kindern, es gab Mobbing, viel zu große Nähe von Lehrern, die mit ihren Schülern in sogenannten "Familien" zusammenlebten. Streicheln unter der Dusche, Oralverkehr zum Aufwecken von Schülern, die Verwahrlosung und moralische Verkommenheit ging bis hoch zum Schulleiter Gerold Becker.
Auch der galt bis zur Aufdeckung des Skandals als eine Lichtgestalt der Reformpädagogik. Als ans Licht kam, was sich dort abspielte, war die Öffentlichkeit erst einmal sprachlos: Bis zu 900 Kinder und Jugendliche wurden an der 2015 geschlossenen Odenwaldschule zwischen 1966 und 1989 sexuell missbraucht.
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Fürsorge als Deckmantel
Unter dem Deckmantel von Fürsorge und freiheitlicher Erziehung glaubten sich die Erwachsenen alles herausnehmen zu können. Und viel zu lange sah keiner genau hin, viel zu lange hörte keiner den Kindern zu.
Von der Odenwaldschule führt eine Spur auch wieder zurück zum aktuellen Berliner Missbrauchs-Skandal. Denn von Berliner Jugendämtern wurden sogenannte "schwierige Jugendliche" auch an die Odenwaldschule geschickt.
Jugendliche, die wie Marco und Sven echte Hilfe gebraucht hätten. Wie viele es letztlich waren, die zu pädophilen Pflegevätern in Berlin und Westdeutschland geschickt wurden, kann auch der Hildesheimer Bericht nicht aufklären. Der Grund: Die jetzt veröffentlichte Studie fokussierte sich nur auf die Pflegestelle H.
Wer ist verantwortlich für ihr Leid?
Kentler hatte 1988 in einem Gutachten von seinem "Experiment" berichtet, bei dem er ab 1969 jugendliche Straßenkinder an pädosexuelle "Hausmeister" vermittelte- zum vermeintlich gegenseitigen Nutzen. "Es gelang mir, die zuständige Senatsmitarbeiterin dafür zu gewinnen," berichtet er. Der Missbrauch war damit öffentlich, aber niemanden kümmerte es.
Marco und Sven wurden erst danach in die Hände ihres Peinigers gegeben. Übrigens waren es nicht nur "pädophile Hausmeister", an welche die Kinder abgegeben wurden. Das stellt der Hildesheimer Bericht auch klar: "Die bisherigen Hinweise verdichten sich, dass es sich bei diesen Pflegestellen um alleinlebende, mitunter mächtige Männer (…) aus Wissenschaft, Forschungseinrichtungen und anderen pädagogischen Kontexten gehandelt hat."
Außer Kentler konnten die Verantwortlichen nur vage benannt werden: Die Hildesheimer Forscher sprechen von einem "Netzwerk." Es umfasst wissenschaftliche pädagogische Einrichtungen, einzelne Jugendämter und die für Jugend zuständige Senatsverwaltung. Dort seien pädophile Positionen akzeptiert und verteidigt worden, unter dem maßgeblichen Einfluss von Helmut Kentler. Der kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Kentler starb im Jahr 2008.
Auf der Pressekonferenz drückte die heute zuständige Berliner Senatorin Sandra Scheeres ihr tiefes Mitgefühl aus und betonte die Verantwortung, die das Land Berlin für das Leid der Betroffenen bereit sei zu übernehmen. Obwohl die Fälle verjährt seien, verspricht sie eine auch finanzielle Anerkennung ihres Leids.
Marco und Sven sind trotzdem noch nicht zufrieden. Einer der möglichen Verantwortlichen, der damalige Leiter eines Jugendamtes lebe noch, es gebe aber bisher keine Untersuchung dazu. "Die haben ihr Ziel erreicht, keine Namen wurden genannt. Sie haben ihr System geschützt", sagt Marco. Man muss das nicht so düster sehen. Aber eines ist auch klar: Auch nach dem Bericht der Hildesheimer Forscher muss die Aufklärung weitergehen, mehr Akten müssen freigegeben werden. Damit endlich die Frage beantwortet wird: Wie war so etwas möglich?