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PolitikFrankreich

Missbrauchsprozess Gisèle Pelicot: Letzte Zeugenaussagen

22. November 2024

Gisèle Pelicots öffentlicher Prozess ist eine Kampfansage an eine patriarchale Gesellschaft, die Vergewaltigung banalisiert. Ein Bericht aus dem Gerichtssaal. Achtung: Dieser Text enthält Schilderungen sexueller Gewalt.

Gisele Pelicot
Gisèle Pelicot stellt sich der Öffentlichkeit, damit sich die Täter nicht verstecken könnenBild: Christophe Simon/AFP/Getty Images

Auf den ersten Blick erweckt Avignon mit seinen mittelalterlichen Stadtmauern und charmanten Gassen den Eindruck einer unauffälligen Kleinstadt. Man würde kaum ahnen, was sich hier in diesen Tagen abspielt. Doch je mehr man sich dem Gerichtsgebäude nähert, desto mehr fallen die Graffitis und Poster ins Auge.

"Gisèle, unsere Sonne", "Gisèle, unsere Ikone", "Symbol für Würde und Mut". Dem Gericht gegenüber weht ein Banner im Wind, es trägt die Aufschrift: "Vergewaltigung ist Vergewaltigung". Als Gisèle Pelicot entschied, den Prozess gegen ihren Ex-Mann Dominique Pelicot und 50 weitere mutmaßliche Vergewaltiger öffentlich zu verhandeln, wurde sie weit über Avignon hinaus zu einer feministischen Ikone.

Die öffentliche Unterstützung für Gisèle Pelicot und für ihren Mut war und ist groß, wie hier auf einer Demonstration im September in ParisBild: Mohamad Salaheldin Abdelg Alsayed/Anadolu/picture alliance

Der letzte Angeklagte steht im Zeugenstand

Der Gerichtssaal ist bis auf den letzten Platz belegt. Trotzdem könnte man hier eine Stecknadel fallen hören. Es wollen so viele Menschen den Prozess sehen, dass sogar ein zweiter Raum für eine Videoübertragung eröffnet wurde. Fünf Richter sitzen auf schwarzen Stühlen, das riesige magentafarbene Gemälde hinter ihnen beißt sich mit der roten Robe des Gerichtspräsidenten Roger Arata. Gegenüber von ihm im Zeugenstand: Philippe L., 62 Jahre alt, Gärtner.

Er ist der letzte aus der langen Reihe von Angeklagten. Philippe wippt nervös hin und her. Er weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Von oben sieht man die Glatze des Gärtners durch seinen Haarkranz leuchten. Er leugnet, die Absicht gehabt zu haben, Gisèle Pelicot zu vergewaltigen. Er habe sie "nur" mit den Fingern penetriert, sagt er mit einer tiefen Raucherstimme. Mit seinen Händen und Hüften illustriert er den Akt, bewegt sein Becken dabei nach vorne und hinten. 

"Damit die Scham die Seite wechselt", steht auf diesem Graffiti in Gentilly, südlich von Paris. Gisèle Pelicot hat diesen Satz geprägt, als sie durchsetzte, den Missbrauchsprozess gegen ihren Mann öffentlich zu verhandelnBild: Geoffroy van der Hasselt/AFP/Getty Images

Hört man den Schilderungen zu, könnte man meinen, Philippe habe sich mit Dominique Pelicot zum Kaffeekranz verabredet. Er sagt aus, auf dem besagten Internetportal nach einer "kinky Frau" gesucht zu haben. Dort sei er von Monsieur Pelicot kontaktiert worden, zu einem "Trio". Sie verabreden sich für den Nachmittag des 7. Juni 2018. Zunächst gab es Kaffee und Wasser, dann schauten Dominique und Philippe gemeinsam Videos, in denen Gisèle von ihrem Ex-Mann und anderen Männern vergewaltigt wird.

Dominique Pelicot filmte alle Taten

Im Schlafzimmer erfährt Philippe von Dominique, seine Frau habe Schlaftabletten genommen, das Ganze sei Teil eines Spiels. Philippe sagt, Dominique habe dann darauf bestanden, dass er die reglose Gisèle penetriere. Der Gerichtspräsident verliest eine Beschreibung des Videos der mutmaßlichen Vergewaltigung, eine detaillierte Schilderung dessen, was Gisèle Pelicot angetan wurde, während sie bewusstlos auf dem Bauch lag. Im Video hört man Gisèle schnarchen.

Wie Gisèle Pélicot andere Vergewaltigungsopfer inspiriert

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"Aus Höflichkeit" habe er dann seine Kleidung wieder angezogen und darauf gewartet, bis auch Dominique damit fertig war, seine Frau zu vergewaltigen. "Sie haben ein kurioses Verständnis von Höflichkeit", stellt Stephane Babonneau, Anwalt von Gisèle Pelicot, fest. "Sie warten auf Monsieur Pelicot, halten sich selbst aber nicht im Zaum?"

"Es gibt kein Recht auf Irrtum"

Er habe nicht gehandelt, "wie ein Mann handeln sollte", sagt Philippe. Er habe nicht mit seinem Gehirn, sondern mit seinem Penis gedacht. Er habe nicht gewusst, dass Gisèle bewusstlos ist und nie ihr Einverständnis geben konnte. Das sagt Philippe, obwohl der Chatroom, in dem Dominique ihn und die anderen Männer rekrutiert hat, den Namen 'à son insu' ('ohne ihr Wissen') trägt.

Ob es ihn nicht gestört habe, dass Madame Pelicot reglos da lag, möchte der Anwalt wissen. Philippe redet sich um Kopf und Kragen. Er kann weder stillstehen, noch einen klaren Satz formulieren, redet in Floskeln: "Voilá, ehhh, je sais pas…comme ci, comme ça." Mit der Hand in der Hosentasche, auf und ab wippend, sagt er schließlich, es tue ihm leid, dass die Dinge unglücklicherweise so ausgegangen sind. 

Dominique Pelicot und 50 weitere Männer müssen sich in Avignon vor Gericht verantwortenBild: Manon Cruz/REUTERS

Wie die meisten der 50 Mitangeklagten plädiert Philippe auf nicht schuldig. Er sei kein Vergewaltiger, sondern vielmehr Opfer des Systems Dominique Pelicot, lautet die Strategie der Verteidigung.

Sind die etwa 200 Vergewaltigungen, die auf Videos dokumentiert sind, demnach bloße Irrtümer von Männern, die es nicht besser wussten? "Wenn ein Mann auf eine bewusstlose Frau trifft und entscheidet, ohne ihr Einverständnis sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen, gibt es kein Recht auf Irrtum", wird Gisèles Anwalt später in seinem Abschlussplädoyer zu dieser Strategie sagen.

"Sie sind alle schuldig"

Dann betritt Gisèle Pelicot ein letztes Mal den Zeugenstand. Sie trägt ein grün-weißes Kleid und eine olivfarbene Strickjacke. Sie steht gerade, mit erhobenem Haupt, ihre Hände sind auf dem Pult gefaltet. Mit gefasster Stimme sagt sie, sie sei heute müde. Sie habe hier Dinge gehört, die inakzeptabel seien. Von Männern, die trotz Videobeweisen leugnen, sie vergewaltigt zu haben.

Diesen Männern möchte sie sagen: "An welchem Punkt, an dem ihr den Raum betreten habt, hat Madame Pelicot ihr Einverständnis gegeben?" Jeder der Männer, so Gisèle, habe die Möglichkeit gehabt, zur Polizei zu gehen. Selbst ein anonymer Tipp hätte sie retten können. Dominique Pelicot und die Männer, die hinter ihr auf der Anklagebank sitzen, hätten bewusst die Entscheidung getroffen, sie zu vergewaltigen.

Dass die Mitangeklagten lediglich von Dominique zu diesen Straftaten manipuliert wurden, glaubt Gisèle nicht. Dominique, der die Vergewaltigungen gestanden hat, sagt selbst, die Mitangeklagten würden dies behaupten, "um sich zu retten". Aber ist diese Strategie überhaupt einen Versuch wert?

Beatrice Zavarro (R), die Anwältin von Dominique Pelicot, stellt sich im Gerichtsgebäude von Avignon den Fragen der MedienvertreterBild: Christophe Simon/AFP/Getty Images

In Frankreich wird Vergewaltigung definiert als "jede Art der sexuellen Penetration, die gegen eine andere Person unter Anwendung von Gewalt, Nötigung, Drohung oder Ausnutzung von Überraschung" begangen wird. Das Urteil des Prozesses wird Ende Dezember erwartet. Viele erhoffen sich davon nicht nur einen gesellschaftlichen Wandel, sondern auch eine Gesetzesänderung.

Frankreichs Justizminister Didier Migaud könnte diese veranlassen. Er zeigte sich der Presse gegenüber offen, 'Zustimmung' in die gesetzliche Definition von Vergewaltigung mit aufzunehmen. Eine EU-weite Definition von Vergewaltigung scheiterte erst Anfang des Jahres an 14 Mitgliedsstaaten - darunter auch Frankreich und Deutschland. Der Gesetzesvorschlag sah vor, Vergewaltigung als Sex ohne Einverständnis zu definieren, ohne dass Betroffene wie in Frankreich Gewalt oder Nötigung nachweisen müssen.

"Meine Enkelkinder sollen stolz auf mich sein"

Gisèle Pelicot hofft, mit ihrem Prozess zumindest den notwendigen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Es sei höchste Zeit, dass Frankreichs "patriarchale, Macho-Gesellschaft, die die Vergewaltigung banalisiert" sich ändere, so die 71-jährige in ihrer letzten Ansprache vor Gericht.

Gisèle Pelicot verlässt das Gericht in AvignonBild: CHRISTOPHE SIMON/AFP

Den Mann, mit dem sie gut ein halbes Jahrhundert verheiratet war, nennt Gisèle vor Gericht nicht Dominique, sondern Monsieur Pelicot. Ihre Kinder, sagt sie, schämen sich für diesen Namen. Ihre Tochter Caroline heißt jetzt Darian mit Nachnamen.

Im Kreuzverhör fragt einer der Anwälte Gisèle, warum sie trotzdem den Namen Pelicot behält. Im Saal herrscht Stille, als sie ruhig antwortet: "Mein Name ist jetzt auf der ganzen Welt bekannt. Heute möchte ich, dass meine Enkelkinder stolz auf ihre Oma sind. Heute erinnern wir uns an Gisèle Pelicot."