1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KriminalitätFrankreich

Missbrauchstäter Le Scouarnec und die Wut der Opfer

Rosie Birchard
30. Mai 2025

Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Der Prozess gegen den Arzt, der fast 300 Patienten missbraucht hat, erschüttert Frankreich. Opferverbände beklagen Versäumnisse und Vertuschungen und fordern härtere Strafen.

Protestierende, Protestschilder auf den Stufen des Gerichtsgebäudes beim Le Scouarnec-Prozess
Überlebende sind enttäuscht, dass Joel Le Scouarnec nach französischem Recht nur zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden kannBild: Damien Meyer/AFP

Warnung: In diesem Artikel werden Selbstmord, sexuelle Übergriffe und andere Einzelheiten erwähnt, die Lesende als verstörend empfinden könnten.

In Vannes, einer kleinen Stadt am Meer im Westen Frankreichs, spricht man nicht viel über Joel Le Scouarnec, der diese Woche zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er hatte in mehr als drei Jahrzehnten seiner Tätigkeit als Chirurg nahezu 300 seiner Patientinnen und Patienten - die meisten davon Kinder - vergewaltigt und sexuell missbraucht.

Auf keiner der Titelseiten der lokalen Zeitungen war sein Gesicht am Morgen nach seiner Verurteilung abgebildet. Und nur wenige Menschen, die ein Segel-Festival im Hafen von Vannes besuchten, wollen über den Sexualstraftäter sprechen, der in dieser Woche nur wenige Minuten Fußweg von hier verurteilt wurde.

"Er hat Schande über die Bretagne gebracht", sagt die 83-jährige Rentnerin Joelle Leboru. "Wie konnte er nur so lange davonkommen?"

Die Anatomie des Missbrauchs

Die Verbrechen, die dem Chirurgen im jüngsten Verfahren vorgeworfen wurden, hat der Verurteilte zwischen 1989 und 2014 in zahlreichen Krankenhäusern im Westen Frankreichs begangen.

Oft vergewaltigte Le Scouarnec seine Opfer, während sie in Narkose lagen oder daraus erwachten. In seinen Tagebüchern hielt er hunderte dieser Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe gegen Kinder detailreich fest. Als ihn 2017 ein Nachbarskind des sexuellen Missbrauchs bezichtigte, konnte die Polizei diese Aufzeichnungen bei einer Wohnungsdurchsuchung sicherstellen.

"Ich bin total pervers, ein Exhibitionist, ein Voyeur, ein Sadist, ein Masochist. Ich bin obszön, ich bin ein Fetischist, ein Pädophiler. Und ich bin sehr glücklich darüber", notierte er 2004 laut der Tageszeitung "Le Monde". Ihr zufolge fand die Polizei in seiner Wohnung außerdem eine größere Anzahl Puppen, einige von der Größe von Babys, andere von der Größe von Kleinkindern.

Tagebuchaufzeichnungen halfen der Polizei, die Opfer des Chirurgen (hier im Bildhintergrund rechts dargestellt) zu findenBild: Benoit Peyrucq/AFP

Verurteilt wegen Besitz von Kinderpornographie

Le Scouarnec war schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. 2005 wurde er wegen Besitz von Kinderpornographie verurteilt. Damals erhielt er eine viermonatige Bewährungsstrafe. Seine Arbeit, auch die mit Kindern, konnte er bis zur Rente fortsetzen.

Verwaltungsmitarbeiter an den Krankenhäusern, die ihn auch nach seiner Verurteilung 2005 weiterbeschäftigten, wiesen während des jüngsten Prozesses jede direkte Verantwortung von sich. Da das Gericht weder ein Berufsverbot noch ein Verbot der Arbeit mit Minderjährigen ausgesprochen hatte, standen sie ihrer Überzeugung nach nicht der Pflicht, selbst zu handeln.

Le Scouarnec arbeitete überwiegend in ländlichen, relativ schlecht ausgestatteten Krankenhäusern, in denen der Verlust eines Chirurgen schnell zur Schließung einer ganzen Abteilung führen konnte.

Während des Prozesses wurde auch die Frage aufgeworfen, ob andere von dem Missbrauch wussten und untätig blieben. Seine Ex-Frau stritt jedes Wissen darüber ab. Weitere Verfahren werden wohl folgen, denn die Überlebenden drängen darauf, dass alle möglicherweise Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Le Scouarnec selbst bekannte sich in allen Anklagepunkten schuldig und bat das Gericht, bei der Urteilsfindung "keine Nachsicht" zu üben. In Berufung will er nicht gehen. Der Arzt entschuldigte sich bei den Opfern. Die beschrieben seine Bitte um Vergebung jedoch als "rein formell". 

Die Polizei fahndete nach den Opfern

Im Gegensatz zu den meisten Kriminalfällen, in denen nach Verdächtigen gefahndet wird, machte sich die Polizei hier auf die Suche nach den Opfern - von denen viele sich nicht an den Missbrauch erinnerten.

Wie andere erfuhr auch der 35-jährige Louis-Marie erst durch einen Anruf der Polizei davon. Gemeinsam mit anderen Überlebenden steht Louis-Marie am Tag der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude und entrollt ein Banner.

Es besteht aus Hunderten von einzelnen Blättern. Jedes Blatt zeigt eine Silhouette: eine für jedes Opfer von Le Scouarnec. Neben vielen steht "Anonym", doch einige davon sind mit einem Name und einer Zahl versehen - dem Alter zum Zeitpunkt des Missbrauchs.

Überlebende und ihre Familienmitglieder versammelten sich am 28. Mai 2025 vor dem Gerichtsgebäude in VannesBild: Rosie Birchard/DW

"Uns ist klar geworden, dass es viele institutionelle Versäumnisse gab, die bis heute nicht aufgeklärt wurden", macht Louis-Marie im Gespräch mit der DW deutlich.

Nach der Urteilsverkündung gelobte die nationale Ärztekammer Frankreichs, CNOM, alle Reformen umzusetzen, "die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass sich eine solche Tragödie nie wiederholt". Frankreichs Gesundheitsminister versprach außerdem, mit dem Justizministerium zusammenzuarbeiten, um Kinder und andere Patienten besser vor Sexualstraftätern zu schützen.

Höchststrafe für schwere Vergewaltigung: 20 Jahre

Vor der Urteilsverkündung erzählte Regine, die Mutter eines Missbrauchsopfers, der DW, sie sei schlicht erschöpft. "Als Eltern sind wir Sekundäropfer. Zu wissen, dass wir unsere Kinder in die Hände dieses Monster gegeben haben, ist schwer", sagt sie. "Ich werde das für immer bereuen. Das geht nicht vorbei. Für uns bleibt das ein Leben lang."

Für Le Scouarnec gilt das nicht. Auch in besonders schweren Fällen der Vergewaltigung beträgt die Höchststrafe in Frankreich zwanzig Jahre, gleichgültig ob es sich um ein Opfer oder Hunderte handelt.

Zu genau 20 Jahren verurteilten die Richter den 74-jährigen ehemaligen Arzt dann auch. Die Vorsitzende Richterin Aude Buresi verwies dabei darauf, dass sie an die Vorgaben des Gesetzes gebunden sei.

Opferverbände fordern nun eine Gesetzesänderung mit längeren Haftstrafen für Serientäter.

Eltern seien "Sekundäropfer", sagt Regine, deren Kind ebenfalls missbraucht wurdeBild: Rosie Birchard/DW

Ruf nach Reformen im französischen Strafrecht

Das Gericht hat noch weitere Maßnahmen gegen Le Scouarnec verhängt. So muss er sich nach seiner möglichen Entlassung von Kindern und Tieren fernhalten. Eine Wiederaufnahme seiner ärztlichen Tätigkeit ist ihm verboten. 

Wegen anderer Verfahren hat Le Scouarnec bereits einige Jahre in Untersuchungshaft verbracht. In Frankreich werden Freiheitsstrafen nicht nacheinander verbüßt, ein Teil der zwanzigjährigen Gefängnisstrafe von Le Scouarnec gilt also als bereits abgegolten. In den 2030-Jahren könnte er bei entsprechender richterlicher Zustimmung vorzeitig entlassen werden.

Das Gericht entschied sich dagegen, Le Scouarnec nach Verbüßung seiner Strafe in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung einweisen zu lassen und verwies dabei auf sein Alter und seine Bereitschaft, "Wiedergutmachung zu leisten" - ein Schock für einige der Überlebenden und ihre Familien.

Xavier Vinet, dessen Sohn als Kind von Le Scouarnec missbraucht worden war, bebt vor Empörung, während er der DW sagt: "Er sollte lebenslänglich ins Gefängnis. Die Todesstrafe haben wir hier nicht, aber für Männer wir ihn sollten wir sie wieder einführen."

Eine Frau hält einen Zettel mit der Aufschrift "Prison a vie" in der Hand: lebenslänglich - das fordern Opferverbände für schwere VergewaltigungBild: Rosie Birchard/DW

Verbrechen, die Leben zerstörten

Vinets Sohn Mathis durfte die Verurteilung Le Scouarnecs nicht mehr erleben. 2021 starb er an einer Überdosis Drogen. Seine Familie ist überzeugt, dass er Selbstmord beging. "Er war ein fröhliches Kind, bevor das passierte", sagt Vinet. 

2018 erfuhren Mathis und seine Familie von der Polizei, dass Le Scouarnec ihn im Alter von zehn Jahren während eines Krankenhausaufenthalts missbraucht hatte. "Dann änderte sich alles. Dann richtete er sich selbst zugrunde", fügt Vinet hinzu.

Vor Gericht gab Le Scouarnec zu, dass er "Verantwortung trage" für den Tod von Mathis und einem anderen seiner jungen Opfer, das 2020 starb.

Xavier Vinet macht den Vergewaltiger für den Selbstmord seines Sohnes verantwortlichBild: Rosie Birchard/DW

Über sexuelle Gewalt an Kindern spricht man nicht

Der Fall hat Frankreich ohne Zweifel erschüttert. Während des Prozesses kamen zahllose verstörende Einzelheiten ans Licht. So gestand der 74-Jährige unvermittelt den Missbrauch seiner Enkelin. Wie französische Medien berichteten, hatten weder die Staatsanwälte noch sein Sohn zuvor davon gewusst. 

Der Vergleich mit dem Fall Gisele Pelicot liegt nahe. Die Französin hatte auf ihr Recht auf Anonymität verzichtet, um den Prozess gegen ihren Mann und etwa 50 weitere Männer, öffentlich zu machen, die sie über zehn Jahre lang vergewaltigt hatten.

Pelicot erfuhr ebenso wie die Opfer Le Scouarnecs erst durch die Polizei von den Vergewaltigungen. Diese fanden statt, während sie betäubt war. Während der Pelicot-Prozess internationales Medieninteresse hervorrief, wurde der Fall Le Scouarnec eher im Verborgenen verhandelt.

Die Studentin Emma Le Floch wundert das nicht. "Alles, was mit Kindern zu tun hat, ist stark tabuisiert," sagt die 21-Jährige, die an diesem Tag das Segel-Fest im Hafen von Vannes besucht. "Es ist erschreckend, sich klar zu machen, wie nah alles ist. Dass ich selbst zu diesem Arzt hätte gehen oder er mich hätte operieren können."

"Wir sprechen nicht genug über sexuelle Gewalt gegen Kinder", fügt sie hinzu. "Ich glaube, wir wollen nicht darüber sprechen."

Wie Gisèle Pélicot andere Vergewaltigungsopfer inspiriert

03:11

This browser does not support the video element.

Wenn Sie sich emotional belastet fühlen oder Selbstmordgedanken haben, suchen Sie sich professionelle Hilfe. Auf dieser Website erhalten Sie unabhängig von Ihrem Wohnort Informationen darüber, wo Sie Hilfe finden können: www.befrienders.org

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen