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Misshandlungen im Turnen: "Er ließ mich absichtlich fallen"

Jonathan Crane
17. Dezember 2020

Zwei frühere Turnerinnen des Nationalkaders schildern der DW ihre Erfahrungen mit Mobbing und Misshandlung. Die Probleme im deutschen Turnsport seien größer als bisher berichtet, so die beiden Athletinnen.

Symbolbild Schwebebalken
Bild: Eibner-Pressefoto/picture alliance

Turnsport in der Kritik

04:12

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Wer Naomi und Ruby van Dijk in Melsungen in Nordhessen beim Training am Schwebebalken beobachtet, kann ihre Liebe zum Turnen spüren. Doch ihr Lächeln täuscht darüber hinweg, wie sehr sie jahrelang in diesem Sport gelitten haben. Erst jetzt, sagen die beiden, hätten sie wieder ihren Frieden mit dem Turnen gemacht.

Im Alter von zehn Jahren wurden die talentierten Zwillinge für ein Elite-Trainingszentrum in Bergisch Gladbach bei Köln ausgewählt. Alles lief gut, bis sie durch verschiedene organisatorische Änderungen einen Trainer bekamen, der "keine Lust hatte, uns zu trainieren". Den Namen des Trainers nennt die DW aus juristischen Gründen nicht.

Die Mädchen litten unter der Situation, ihre Leistungen wurden schwächer. Naomi und Ruby, heute 26 Jahre alt, berichten, der Trainer habe sie als fett und faul beschimpft und sie gezwungen, alleine zu Wettkämpfen zu fahren. "Das Schlimmste war, als er sagte, er würde nicht mit uns kommen", sagt Ruby. "Wenn du 14 oder 15 bist, brauchst du einen Trainer, der hinter dir steht, egal wie schlecht du bist. Kurz vor dem Wettkampf hat er uns immer runtergemacht und gesagt: 'Ihr seid zu schwer, ihr blamiert mich.'"

Naomi und Ruby van Dijk haben ihre Liebe zum Turnen wiedergefundenBild: Jonathan Crane/DW

Der Trainer habe regelmäßig gesagt, dass es ihr an Kraft fehle, erzählt Naomi. Einmal habe er sie bei einer Barrenübung absichtlich auf den Kopf fallen lassen, um ihr eine Lektion zu erteilen. "Er hat mich zwei- oder dreimal aufgefordert, tiefer herunterzugehen", sagt Naomi. "Aber ich wusste ja, dass er mich nicht halten würde. Deshalb bin ich nicht weiter runter gegangen. Als ich es nach der dritten Aufforderung doch tat, hat er mich losgelassen und gesagt: 'Da, siehst du!'"

Der Lüge bezichtigt

Der Trainer schob die Beschwerden der Zwillinge mit der Bemerkung beiseite, sie seien "frech". Als sich Naomi und Ruby an den regionalen Verband, den Rheinischen Turnerbund (RTB), wandten, wurden sie der Lüge bezichtigt, was ihnen das Gefühl gab, dass sie selbst das Problem seien und nicht der Trainer. "Mit 14 Jahren wollte ich einfach keinen Turnanzug mehr tragen", erinnert sich Naomi an diese Zeit. "Ich dachte immer, dass alles an mir falsch ist - wie ich aussehe, woher ich komme, was ich mache, wie ich rede, wie ich bin. Das hat meine Persönlichkeit damals wirklich verletzt."

Man habe eine "Null-Toleranz-Haltung gegenüber physischer und psychischer Gewalt jeglicher Art", erklärte der RTB auf Anfrage der DW: "Der RTB nimmt die erhobenen Vorwürfe sehr ernst und wird die Sachverhalte schnellstmöglich aufklären. Den Verband treffen die Vorwürfe überraschend, denn es gab bisher keine Hinweise, die Arbeitsweise [des Trainers, Anm. d. Red.] betreffend." Damals, sagt Ruby, habe man ihnen drei Optionen gelassen: "Aufhören, mit dem Trainer zurechtkommen oder den Stützpunkt wechseln."

Dagmar Freitag: "Nicht akzeptabel"

Turnsport in der Kritik - Dagmar Freitag im DW-Gespräch

03:36

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Naomi und Ruby van Dijk entschieden sich für die letzte Variante und wechselten zum Olympiastützpunkt in Chemnitz. Die Zwillinge träumten von olympischen Erfolgen, doch ihre Leidenszeit war damit noch nicht vorbei. Ende November berichtete das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", in Chemnitz seien Athletinnen misshandelt worden. Rund ein Dutzend Turnerinnen warfen Cheftrainerin Gabriele Frehse vor, sie im Training schikaniert zu haben. So hätten sie beispielsweise trotz Verletzungen weitertrainieren müssen.

"Wir können definitiv bestätigen, dass die Anschuldigungen der anderen Mädchen nicht haltlos sind", sagt Ruby. "Zwei oder drei von ihnen waren mit uns in Chemnitz, und wir waren quasi Zeugen, wie schlecht sie behandelt wurden." Gabriele Frehse hatte die Anschuldigungen gegen sie als "haltlos" zurückgewiesen: "Ich habe nie die Grenze überschritten." Der Deutsche Turnerbund (DTB) suspendierte Frehse dennoch vorläufig. Alle Vorwürfe, einschließlich jener der van Dijk-Zwillinge, würden "geprüft", heißt es seitens des DTB.

"Es ist wichtig, dass die Fälle unabhängig untersucht werden", teilte der Verband auf Anfrage der DW mit. "Dieser Prozess findet aktuell statt und wird durch eine Anwaltskanzlei und eine Psychologin umgesetzt. Wir werden selbstkritisch in die Aufarbeitung gehen. Dies bedeutet auch: Wenn die Untersuchungen ergeben, dass strukturelle Veränderungen und Konsequenzen getroffen werden müssen, wird der DTB diese aktiv angehen. Wir akzeptieren keinerlei Klima der Angst in unseren Turnhallen."

Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, sagte im DW-Interview: "Es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen." Es sei aber "nicht akzeptabel, diese Art von Druck auf sehr junge Athleten, zum Beispiel indem man über ihr Gewicht spricht, auszuüben", so die SPD-Politikerin. Man könne "mit Athleten reden", müsse dies aber "auf eine verantwortungsvolle Art und Weise" tun.

Wettkampf unter Schmerzen

Damals in Chemnitz hatten die van Dijk-Zwillinge das Gefühl, dass sie wegen ihres Rufs als Störenfriede besser schweigen sollten. "Wir wollten in der Trainingsgruppe akzeptiert werden und einfach nur trainieren", erinnert sich Naomi. "Es hieß: 'Ihr seid lästig, ihr seid das Problem.' Wir wollten zeigen, dass wir nicht lästig sind, sondern eigentlich fleißig. Deswegen haben wir viele Sachen gar nicht erst angesprochen."

Auch wenn sie sich machtlos fühlten, konnten sich Naomi und Ruby zumindest gegenseitig unterstützen, während es anderen schlechter erging. Naomi berichtet von ihrer damals besten Freundin, "die wirklich viele Probleme hatte" und sich selbst verletzt habe. "Sie hat sich oft geritzt und versucht, es zu verstecken", sagt Naomi. Die Zwillinge bestätigen auch fragwürdige medizinische Praktiken in dem Olympiazentrum. So hätten Turnerinnen bei Arztterminen starke Schmerzmittel und Injektionen erhalten - ohne Rezept und ohne Wissen der Eltern.

Die Schwestern beim Training auf dem Schwebebalken Bild: Jonathan Crane/DW

Ruby wurde laut eigener Aussage aufgefordert, ihre permanenten Rückenschmerzen, die später auch zu einer Operation führten, einfach zu ignorieren. Eine der Trainerinnen in Chemnitz habe ihr vorgeworfen, sie habe doch nur Angst vor dem Wettkampf. "Sie hat mir häufig gesagt, dass ich mir die Rückenschmerzen nur einbilde und mich gefragt, ob ich den Unterschied zwischen Muskelkater und richtigen Schmerzen überhaupt kenne", berichtet die 26-Jährige, die ihre eigenen MRT-Ergebnisse nicht einsehen durfte. "Das ging anderthalb Jahre lang so. Irgendwann habe ich selbst geglaubt, dass es nur Einbildung ist." Thomas Weise, Leiter des Olympiastützpunktes in Chemnitz, lehnte es ab, sich gegenüber der DW zu den Vorwürfen zu äußern, solange die Untersuchung laufe.

Naomi und Ruby van Dijk wollen nicht einzelne Personen für das verantwortlich machen, was sie im Turnsport erlebt und erlitten haben. Schuld sei vielmehr ein System, in dem Macht und Autorität in den Händen weniger Personen, die selten für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen würden, konzentriert seien. Für Ruby steht fest, dass es für Turnerinnen auch "andere Wege zum Erfolg" gibt: "Wenn es jahrelang so gemacht wurde, bedeutet das doch nicht, dass es auch in Zukunft so weitergehen soll."

Adaption: Stefan Nestler

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