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Mit 15 im Aufstand

1. August 2019

Aleksandra Diermajer war 15, als in Warschau der Aufstand gegen die deutschen Besatzer ausbrach. Sie ist eine von Tausenden Jugendlichen, die sich widersetzt haben. Sogar in die Gefangenschaft ging sie freiwillig.

Aleksandra Diermajer-Sękowska als Jugendliche
Aleksandra Diermajer-Sękowska als Jugendliche: Pseudonym "Olenka"Bild: Aleksandra Diermajer-Sekowska

1943 tritt Ola den Pfadfindern bei. Seit vier Jahren tobt in Polen der Krieg. Die Jugendliche geht heimlich zur Schule und will Soldatin werden. Es sei für sie eine "natürliche Folge" der patriotischen Erziehung in einer gebildeten evangelischen Familie gewesen, erinnert sich Ola heute, die mit vollem Namen Aleksandra Diermajer heißt. Sie sei in ihrem Bekanntenkreis als "braves Mädchen aus gutem Hause" wahrgenommen worden. Die Pfadfinderschaft sollte ihr dabei helfen, diese "Last" loszuwerden. Ola wollte unbedingt tapfer und mutig sein.

Mit weißem Kragen in den Kampf

Im Sommer 1944 entscheidet sich die Polnische Heimatarmee für den Aufstand gegen die deutschen Besatzer. Der Start wird für den 1. August  geplant. Eine Woche davor wird Ola, die ab da das Pseudonym "Olenka" annimmt, von der Polnischen Heimatarmee in den sogenannten militärischen Sozialdienst delegiert, der die Zivilbevölkerung schützen soll. Sie wird im Kommunikations- und Sanitätsbereich eingesetzt. Die Entscheidung, in den Aufstand zu gehen, fällt ihr leicht. Sie hält es für eine "Pflicht".

Soldaten der Polnische Heimatarmee beim Warschauer Aufstand im August 1944Bild: picture-alliance/Heritage-Images

Die Mutter ist verzweifelt. Am frühen Morgen des 1. August stattet sie ihre Tochter mit weiß gestärktem Blusenkragen aus. "Denk daran, sie jeden Tag zu wechseln, um schick auszusehen", sagte ihre Mutter. Beide dachten, dass sie sich nur für eine kurze Zeit trennten. Doch zum Wiedersehen kam es erst drei Jahre später. 

Frauen im Aufstand

50.000 Soldaten, teilweise ohne militärische Vorbereitung, darunter viele Jugendliche, gingen enthusiastisch in den Kampf um Warschau. Die Ostfront rückte näher, die Rote Armee stand schon am anderen Ufer der Weichsel, deutsche Truppen verließen schon die Stadt. Man hoffte auf die Hilfe der Alliierten. Dass die Polen letztlich doch auf sich alleine gestellt bleiben würden, ahnte damals niemand. Der Aufstand endete in einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Die Stadt wurde nach der Kapitulation in Schutt und Asche gelegt.

 

Zeitzeugin Diermajer-Sękowska: "Ich denke, dass ich einfach zu wenig tapfer war und deshalb überlebt habe"Bild: DW/M. Sieradzka

Olenka war eine von den 5000 weiblichen Aufständischen. Einige kämpften mit der Waffe in der Hand oder montierten Minen auf Gleise, um deutsche Züge zu sprengen. Doch die meisten dienten, wie Olenka, im Kommunikations- und Sanitätsdienst. 

Ihre Hauptaufgabe war, Milch für die kleinen Kinder in Kellern und Bunkern zu liefern. "Jede Milchflasche wurde in einen Metallbehälter gestellt, um sie vorm Zerbrechen zu schützen. An den Behälter wurde ein starker langer Draht befestigt, den man in der Hand halten sollte, wenn man hinter der Barrikade, auf dem Boden, von einer Straßenseite auf die andere kriechen musste", erinnert sich Aleksandra Diermajer. Dann wurde der Behälter weiter geschoben, bis es jemand entgegen nahm. "Und dann zurück, kriechend, auf die andere Seite. So wurde eine Freundin von mir beim Beschuss der Barrikade schwer verletzt. Also auch Milchtransporte waren lebensgefährlich."

Am schlimmsten war der Schlafmangel. Es gab keine Plätze in überfüllten Quartieren der Aufständischen. Ola war keine Soldatin und somit wurde ihr auch kein Platz zum Schlafen zugewiesen. "Ein paar Mal ist es mir gelungen, in einer leeren Wohnung zu schlafen. Auf dem Fußboden lagen Glas und Steine, also habe ich sechs Stühle mit einem Riemen miteinander gebunden und mich darauf hingelegt." Eine Qual - auch für eine 15-Jährige.

Freiwillig in die Gefangenschaft

Nach der Kapitulation wollte man Kinder und Jugendliche nach Hause schicken. Doch viele wussten nicht mehr, wo sie ihre Eltern in den Trümmern von Warschau suchen sollten. "Ich hätte nach Hause gehen können, aber zusammen mit meiner Schwester haben wir festgestellt, dass wir in Warschau nichts mehr zu suchen haben. Wir wollten mit anderen Pfadfindern zusammenbleiben. Niemand wollte sich von der Gruppe trennen lassen." Auch die meisten Kinder nicht. Der jüngste polnische Kriegsgefangene in Deutschland soll nach Angaben polnischer Historiker ein elf Jahre alter Aufständischer gewesen sein. 

Solidarisch im Lager

Olenka wurde eine der 3000 weiblichen Aufständischen aus Warschau, die in Viehwaggons nach Deutschland fuhren. Über Fallingbostel und Bergen-Belsen kam Olenka im Dezember 1944 zum Kriegsgefangenenlager "Stalag VI C" in Oberlangen, Niedersachsen. Dort wurden über 1700 Frauen vom Warschauer Aufstand untergebracht. Sie waren im Alter von 14 bis 60 Jahren, knapp 100 waren jünger als 18.

Polen nach dem Zweiten Weltkrieg im Displaced-Person-Lager Maczków in NiedersachsenBild: Aleksandra Diermajer-Sekowska

Olenka erinnert sich an große Solidaritätsaktionen mit denen, die Warschau schwanger verließen und Anfang 1945 ihre Kinder zur Welt brachten. "Bei der ersten Geburt hat fast jede aus eigenen Kleidungsstücken was genäht - Windeln oder Mützen. Dann reichte es auch für die nächsten Babys. Alte Kartons wurden zu Wiegen." Zehn polnische Kinder kamen unter diesen Bedingungen in Oberlangen zur Welt.

Ein neues Leben

Am 12. April 1945 wurde das Lager von der 1942 in Schottland aufgestellten polnischen Panzerdivision unter dem Kommando von General Stanislaw Maczek befreit. Kurz darauf wurde die ein paar Kilometer weiter südlich gelegene Gemeinde Haren (Ems) unter polnische Verwaltung gestellt und dadurch als Ganzes zu einem DP, zu einem Displaced-Person-Lager.

Deutsche Einwohner wurden ausgesiedelt, um für mehr als zwei Jahre für 5000 ehemalige polnische Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter Platz zu schaffen. In der dortigen polnischen Schule hat Aleksandra Diermajer ihr Abitur gemacht und ihren künftigen Ehemann, ebenfalls ein Warschauer Aufständischer, kennengelernt.

Heute fragt sich die pensionierte Bibliothekarin, warum sie eigentlich vom Schicksal verschont geblieben ist. "Jedes Jahr am 1. August gehe ich zu den Gräbern meiner Freunde, aber auch zu denen von unbekannten Personen, die im Aufstand gefallen sind. Sie sind alle tot und ich lebe, als wäre nichts geschehen. Mein evangelischer Pfarrer sagt mir, dass es die Bestimmung ist. Aber ich denke, dass ich einfach zu wenig tapfer war und deshalb überlebt habe."

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