Porträtfotografie in Zeiten des Selfies? Längst Alltag, könnte man meinen. Eine Doppelausstellung zeigt das Gegenteil: Porträts bilden nicht die Realität ab. Sie öffnen unseren Blick für eine ganz andere Wirklichkeit.
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Selfie oder Porträt? Eine Kunstform präsentiert sich
Das Porträt spiegelt die Gesellschaft in der Kunst wieder wie kaum ein anderes Genre. Jetzt steht es im Mittelpunkt einer neuen Doppelausstellung. Der Titel ist Programm: "Mit anderen Augen".
Bild: Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Köln
Wieviele Wörter ist ein Porträt wert?
"Der Maler konstruiert, der Fotograf offenbart", schrieb Susan Sontag 1977 in ihrem Wälzer "Über Fotografie". Während das Porträt seit Jahrtausenden einer der einflussreichsten Genres der Kunst ist, hat sich seine Machart stark verändert. Die Bonner Ausstellung "Mit anderen Augen" zeigt einen Entwicklung auf - bis zum Porträt, wie wir es heute kennen.
Bild: Thomas Struth
Die Betreuerin
Joerg Lipskoch fotografierte 2015 eine Krankenpflegerin als Teil seiner Serie "Menschen des 21. Jahrhunderts". Es ist eine Hommage an den Kölner Fotografen August Sander und dessen "Menschen des 20. Jahrhunderts". Lipskoch sortiert seine Porträts - ähnlich wie Sander - unter Überschriften wie "Schule und Bildung" oder "Freizeit und Erholung".
Bild: Joerg Lipskoch
Die langhaarige Sachbearbeiterin
Die Porträts aus Hiroh Kikais Reihe "Asakusa" wurden alle im gleichnamigen Tokyo Bezirk aufgenommen, in der Nähe des ältesten buddhistischen Tempels der Stadt. Eine Tempelmauer diente häufig als Kulisse, um eine neutralen Hintergrund zu haben. Diese Aufnahme aus dem Jahr 1987 trägt den Titel "Eine Sachbearbeiterin lässt ihre Haare lang wachsen."
Bild: Hiroh Kikai
Die Männer der Arktis
Die norwegische Fotografin Mette Tronvoll verbrachte mehrere Monate in der Arktis, in einer ehemaligen Bergbaustadt, in der heute Klimaforscher leben. Die Porträts erschienen in Tronvolls Serie "Svalbard". Die raue, karge Landschaft bietet eine interessante Kulisse, um das Gefühl der Isolation in den Gesichtsaudrücken noch zu verstärken. Dieses Foto entstand 2014.
Bild: Mette Tronvoll
Aus der Heimatstadt des Künstlers
Was aussieht wie ein einfaches Porträt eines Mannes auf einer Landstraße, ist eigentlich eine Geschichte über Dalliendorf, die Heimatstadt des Künstlers. In der Serie aus dem Jahr 1966 hat Albrecht Tübke Menschen bei der Arbeit festgehalten. Dieses Bild zeigt einen stolzen Steinmetz, der auf die Verarbeitung von Carrara-Marmor spezialisiert ist.
Bild: Albrecht Tübke
Ehepaar mit Hund
Die Formenvielfalt der Ausstellung sagt über die zeitgenössische Fotografie ähnlich viel aus wie die Fotos selbst. Jan Paul Elvers 2012 entstandener Sibergelatine-Abzug von einem Paar mit seinem Hund steht im Kontrast zu den schärferen Bildern und den filmischen Installationen, an deren Seite es hängt – und verweist damit sowohl auf Grenzen als auch Möglichkeiten der neuen Fototechnik.
Bild: Jan Paul Evers, courtesy Galerie Max Mayer, Düsseldorf
Porträt eines Amerikaners
"Cheese!" Viele Menschen sind damit aufgewachsen, für ein Foto zum Lächeln aufgefordert zu werden. Vom ersten Familienfoto gleich nach der Geburt bis zum Klassenfoto in der Schule – das lächelnde Porträt vor einem neutralen Hintergrund mag oft nicht authentisch wirken, es sagt dennoch etwas über unsere Gesellschaft aus. Das Foto "American Portrait" von Annette Kelm entstand im Jahr 2007.
Bild: Courtesy of the artist and Johann König, Berlin
Diplomaten im Fokus
Gruppenporträts entfalten ihre ganz eigene Dynamik. Dieses Foto von Clegg & Guttmann aus dem Jahr 2000 trägt den Titel "Group Portrait of Bundesministers". Es ist weniger spontan entstanden als andere Fotos in der Ausstellung und veranschaulicht die Schwierigkeiten, denen ein Fotograf begegnet, wenn er mehrere übergroße Persönlichkeiten auf nur einer kleinen Leinwand einfangen will.
Bild: Courtesy Galerie Nagel Draxler, Berlin/Köln
Mit den Augen eines Soldaten
Der Fotograf Mark Neville verbrachte mehrere Monate bei den in der afghanischen Provinz Helmand stationierten britischen Soldaten. Lebensbedrohliche Situationen gehörten dort zum Alltag. Seine Bücher handeln ebenso von den Erfahrungen vor Ort wie von den Nachwirkungen und enthalten unter anderem Aufnahmen von traumatisiert heimgekehrten Soldaten– beispielsweise das Foto "Firing Range" von 2011.
Bild: Mark Neville
Porträt eines Porträts
Was erzählt ein Porträt über die Kultur und die Gesellschaft, in der es aufgenommen wurde? Das hängt von den Entscheidungen des Fotografen ab. So schrieb Susan Sontag: "Jedes Bild wurde von jemandem ausgewählt. Fotografieren heißt Gestalten, und Gestalten heißt auch, etwas wegzulassen." Dieses Foto von Wolfgang Tillmans wurde 1991 aufgenommen und trägt den Titel "Domestic Scene, Remscheid".
Bild: Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Köln
Apokalyptisches Porträt
Eine der weltgrößten Müllhalden in der ghanaischen Hauptstadt Accra bildet den Rahmen für dieses Porträt eines Mannes, der zwischen Computern, Kühlschränken und anderem Elektroschrott auf der Suche nach wertvollen Teilen ist. Das Porträt "Permanent Error" (2009 - 10) ist die Arbeit des Südafrikaners Pieter Hugo, dessen Gesamtwerk viele politische und sozialkritische Elemente enthält.
Bild: Pieter Hugo
Von der Vergangenheit inspiriert
Für seine Serie "Bretonnes" (2011 – 2014) hat der französische Künstler Charles Fréger Menschen in unterschiedlichsten Trachten und Uniformen fotografiert. Bei dieser Aufnahme eines Bretonischen Mädchens in ihrer traditionellen Tracht des 19. Jahrhunderts wählte der Fotokünstler Gazegewebe als Hintergrund, um dem Foto den Anschein eines Ölgemäldes zu verleihen.
Bild: Charles Fréger
Die Familie geht über die Liebe
"Ich war fasziniert, wie sehr ihr Äußeres zu ihrem Inneren passt", sagt Pepa Hristova über ihre Fotoreihe "Sworn Virgins" . In Albanien gibt es das einzigartige Phänomen der "Schwur-Jungfrauen": Frauen schwören, nicht zu heiraten, sondern ab dem Moment, in dem der Patriarch stirbt, die Familie zu versorgen. Das Foto "Qamile 1" ist zwischen 2008 und 2010 entstanden.
Bild: Pepa Hristova
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"Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun", schrieb Susan Sontag einst in ihrem bahnbrechenden Essay "Über Fotografie". "Indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemalssehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann."
Als das Werk 1977 erschien, löste es einen Skandal aus, übte Sontag darin doch harte Kritik an einer Kunstform, die gerade dabei war, sich neu zu etablieren. Mittlerweile ist "Über Fotografie" zu einer Art Bibel für alle Kunsttheoretiker geworden, die sich mit der gesellschaftlichen Rolle von Fotografie beschäftigen. Ganz gleich, ob Verfechter oder Kritiker ihrer Theorie, die von Sonntag geprägten Begriffe verwenden sie alle.
Aber gilt Sontags Kritik am Porträt auch heute noch? Werden Menschen zum Objekt, gar zur Ware, wenn man sie fotografiert?
Fast vierzig Jahre sind vergangen, seit Sontags Essay veröffentlicht wurde. Mittlerweile sind Porträts zu einem allgegenwärtigen Bestandteil unseres Alltags geworden. Ein Abbild seiner selbst zu besitzen, ist längst kein Luxus wohlhabender Eliten mehr - wie noch zu Zeiten des berühmten amerikanischen Porträtmalers John Singer Sargant Anfang des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich scheinen Sontags Befürchtungen wahrgeworden zu sein.
Die Sucht nach dem Selfie
"Das Bedürfnis nach Bestätigung der Realität und Ausweitung des Erfahrungshorizontes durch Fotografien ist ein ästhetisches Konsumverhalten, dem heute jedermann verfallen ist. Die Industriegesellschaften verwandeln ihre Bürger in Bilder-Süchtige", schrieb Sontag bereits damals.
In unserer heutigen Welt seien "Selfies eine Art Sport" geworden, schreibt die New Yorker Journalistin Rachel Syme in ihrer umfangreichen Hommage an diese neue Kunstform. Welche Relevanz hat da noch das Porträt eines Fotografen?
Genau um diese Frage kreist die Doppelausstellung "Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie". Ein zeitloses Thema, denn das Porträt hat seine Relevanz im Verlauf der Kunstgeschichte nie verloren. In parallel stattfindenden Ausstellungen in Bonn und Köln wird die Frage aufgegriffen, wie sich Porträtfotografie verändert hat, um überhaupt noch in unsere heutige kommerzialisierte und bildgesättigte Welt zu passen.
Die beiden Museen - das Kunstmuseum Bonn und die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln - setzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte bei der Auseinandersetzung mit dem Thema der Porträtfotografie. In Bonn reicht die Bandbreite von dokumentarischen bis hin zu stark inszenierten Bildansätzen, von der Neuformulierung ikonografischer Bildtraditionen bis hin zur künstlerischen Beschäftigung mit der Amateurfotografie. Der Kölner Ausstellungsteil hingegen konzentriert sich auf serielle Porträtarbeiten, die einem künstlerisch-dokumentarischen Ansatz folgen. Dies mag auch daran liegen, dass die SK Stiftung Kultur das Archiv des berühmten Kölner Fotografen August Sander Archiv beherbergt, dem großen Dokumentaristen der "Menschen des 20. Jahrhunderts". Die dokumentarische Fotografie ist also in der Kölner Institution beheimatet. Im Rahmen der Ausstellung "Mit anderen Augen" werden Werkserien aus der eigenen Sammlung präsentiert und um ausgewählte Arbeiten von neun Fotografen aus aller Welt ergänzt.
Die Ausstellung bietet einen umfangreichen Überblick über die Porträtfotografie zum Beginn des 21. Jahrhunderts und zeigt beeindruckende Arbeiten diverser Künstlerinnen und Künstler, die mithilfe verschiedener Medien - von Einzelporträts über Rauminstallationen bis zu Video - einen eigenen Kosmos kreieren.
Die Männer der Arktis
Mit dabei sind Arbeiten der norwegischen Fotokünstlerin Mette Tronvoll. Die Bilder sind als Teil ihrer zwanzigteiligen Dokumentationsserie zu der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen entstanden, auf der Tronvoll atemberaubende, arktische - beinahe jenseitig anmutende - Landschaften festhielt.
Früher beherbergte Spitzbergen wegen reicher Kohlevorkommen mehrere Bergbausiedlungen. Heute leben auf der Inselgruppe viele Forscher, Biologen und Meteorologen, die dort Erkenntnisse über die Folgen des Klimawandels zu gewinnen versuchen. Diesen Wandel fängt Tronvoll visuell eindrucksvoll ein - mit Porträtfotos von Männern in ihrer neuen arktischen Heimat.
Ebenfalls ausgestellt werden Porträts des britischen Fotografen Mark Neville, der sich zwischen 2010 und 2011 vier Monate bei den britischen Truppen in Afghanistan aufhielt. Mit den Fotos, die aus seinem Buch "Battle against Stigma" stammen, versucht Neville, eine Brücke zu schlagen zwischen den Soldaten, die er begleitet hat, und der afghanischen Bevölkerung.
"Man kann in ihren Augen sehen, dass ihr Kontakt mit mir und der Kamera jäh davon beeinflusst wurde, dass wir von Männern mit Maschinengewehren umgeben waren. Davon, dass wir uns in einem Kriegsgebiet befanden", schreibt Neville in seinem Fotobuch.
Einzeln betrachtet, fangen die in der Ausstellung präsentierten Porträts jeweils einen bestimmten Ort zu einer bestimmte Zeit ein. Sie sind, um mit Susan Sontag zu sagen, eine zeitgenössische Form, die Realität unserer modernen Welt festzuhalten und "einzuschließen". Zusammengenommen, sind die Porträts jedoch etwas anderes: Weder das narzisstische, kommerzialisierte Objekt, das ein Selfie vielleicht darstellt, noch der von Sontag postulierte "Gewaltakt", sondern ein reines Erfassen der Seele eines ganz bestimmten Augenblicks.
Die Bilder zeigen das Nebeneinander vielfältiger Realitäten – betrachtet durch den Blick des Fremden. Wenn man so will, "mit anderen Augen".