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Gesellschaft

Mit Baby hinter Gittern

Felat Bozarslan | Daniel Derya Bellut
25. April 2019

"Lehrerin Ayse" wurde zur Symbolfigur für die Lage der Meinungsfreiheit im Land: sie prangerte in einer Fernsehshow die Auseinandersetzungen in den Kurdengebieten an und musste dafür mit ihrem Baby ins Gefängnis.

Türkei Ayse Celik
Ayse CelikBild: DW/F. Bozarslan

Die "Beyaz Show" war lange Zeit eine der beliebtesten Talk-Sendungen im türkischen Fernsehen - kaum jemand in der Türkei ließ sich freitag abends die familienfreundliche Unterhaltungsshow entgehen. Auch im Januar 2016 ist auf der braunen Couch der Show eine gemütliche Runde versammelt. Die Gäste amüsieren sich ausgelassen über die Pointen des Moderators - schütteln sich vor Lachen. Doch die gute Laune wird auf unerwartete Weise gedämpft. Eine Lehrerin, die sich zuvor als Telefongast beworben hatte, wird aus der ostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir in der Live-Sendung zugeschaltet.

"Wisst ihr eigentlich, was hier bei uns im Osten los ist?", beginnt sie ihren Appell. "Das Schweigen muss ein Ende haben. Die Menschen sollen nicht mehr sterben, die Kinder sollen nicht mehr sterben, die Mütter sollen nicht mehr weinen", klagt Ayse Celik. Die junge Lehrerin möchte die Aufmerksamkeit auf die Kämpfe im Südosten der Türkei lenken, die ihrer Meinung nach zu wenig Beachtung in der Öffentlichkeit finden. Denn ab Sommer 2015 kam es dort monatelang zu Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und der PKK. Die verbotene Terrororganisation besetzte Städte, erklärte sie zu autonomen Zonen. Das türkische Militär reagierte mit einer Großoffensive.

Ayse Celik mit ihrer Tochter DeranBild: DW/F. Bozarslan

"Terroristische Propaganda"

Die Anruferin wird in der türkischen Öffentlichkeit schnell zu "Ayse Ögretmen", zu deutsch der "Lehrerin Ayse", und zu einer Symbolfigur für Auswüchse in der türkischen Justiz. Zwar fasst das Publikum ihre Meinungsäußerung positiv auf, es gibt sogar tosenden Applaus. Die türkische Justiz dagegen sieht in ihrer Aussage  "terroristische Propaganda" und bestraft die Lehrerin drakonisch: 15 Monate Haft in einem Gefängnis in Diyarbakir, das Einheimische oft als die "Hölle von Diyarbakir" bezeichnen.

Doch das Urteil trifft nicht nur sie alleine. Sie muss ihr Baby mit ins Gefängnis nehmen. Die Bilder haben sich bei vielen Türken eingebrannt: wie Celik im April 2018 ihre Haftstrafe antritt, sich zögerlich dem Gefängnistor in Diyarbakir nähert, auf dem Arm ihren acht Monate alten Säugling.

Ayse Celik saß im April 2018 zwei Wochen lang im KnastBild: DW/F. Bozarslan

"Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich habe nur mein tiefes Mitgefühl zum Ausdruck gebracht. Dafür dass Kinder (in Konflikten) besonders verwundbar sind." Sie würde nach wie vor zu ihren Worten stehen, lässt sie der Deutschen Welle über ihren Anwalt ausrichten. Celiks Anwalt Mahsuni Karaman berichtet der DW über unwürdige Haftbedingungen im Gefängnis. In einer Zelle, die eigentlich für 12 Leute vorgesehen sei, würde man acht Kinder und 51 Erwachsene unterbringen. Weil es nicht genügend Schlafmöglichkeiten gebe, müssten sich mehrere Häftlinge ein Bett teilen. Aufgrund dieser Bedingungen seien die Kinder permanent krank, so der Anwalt.

Hunderte Frauen mit Kindern im Knast

Wegen der belastenden Bedingungen für ihr Baby erhebt Celik Einspruch gegen das Gerichtsurteil. Mit Erfolg: Sie wird vorübergehend entlassen. Doch seit letzter Woche ist das Urteil endgültig rechtskräftig, sie muss wieder hinter Gitter. Sie entscheidet sich - wohl oder übel - das Kind bei der Großmutter zu lassen. "Ich vermisse mein Kind sehr", sagt sie der DW.

Der Fall der "Lehrerin Ayse" zeigt nicht nur die schwierige Lage der Meinungsfreiheit in der Türkei. Er illustriert auch ein weiteres Problem: Hunderte türkische Frauen sitzen mit ihren Kindern und Neugeborenen hinter Gittern. Laut des türkischen Menschenrechtsvereins IHD waren im vergangenen Jahr 668 Neugeborenen unter drei Jahren und 2,491 Kinder zwischen zwölf und siebzehn Jahren mit ihren Müttern zusammen in Haft. Der Fall der Lehrerin Ayse Celik erinnert an das Schicksal der Deutschtürkin Mesale Tolu. Sie verbrachte mit ihrem zweijährigen Sohn mehrere Monate in türkischer Untersuchungshaft. In ihrem neu erschienenen Buch "Mein Sohn bleibt bei mir" berichtet die 35-Jährige von ihren Erfahrungen aus dieser Zeit.

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