Milo Raus neues Evangelium
5. November 2019Im süditalienischen Matera, 2019 zusammen mit der bulgarischen Stadt Plovdiv Kulturhauptstadt Europas, wälzen sich die Touristengruppen durch die enge Altstadt. Alle wollen die "Sassi" sehen, in die Felsen gehauene Höhlenwohnungen. Bis in die 1950er Jahre waren diese Höhlen "die Schande" Italiens. Dort lebten Menschen wie hundert Jahre zuvor, ohne Elektrizität, ohne fließend Wasser.
Jetzt ist alles herausgeputzt, neue Restaurants, schicke Bars, das Vermietungsportal Airbnb haben Einzug gehalten. Umso irritierender eine filmreife Szene: Ein schwarzer Jesus müht sich, das Kreuz schleppend, die Stufen einer Gasse rauf. Geschlagen von Soldaten im historischen Outfit , sein Hemd ist blutig. Die "Passion Christi", ist Teil eines aktuellen Kinofilms, den der Schweizer Regisseur Milo Rau gerade in Matera und anderen Orten in Süditalien gedreht hat.
Jesus nicht als Heilsbringer
"Ich bin nicht gläubig", sagt Milo Rau, ihm gehe es nicht so sehr um den religiösen Aspekt, sondern um die Botschaft des Neuen Testaments. "Jesus war Sozialrevolutionär, der hat Leute ohne Land, Flüchtlinge, angeführt gegen das römische Imperium. Das machen wir hier auch."
Für Regisseur Rau hat das eine große Aktualität: "Wir drehen nicht nur einen Jesusfilm, sondern wir versammeln Flüchtlinge aus den Lagern, Prostituierte, Kleinbauern, die durch die Großindustrie arbeitslos geworden sind, und alle, die quasi ausgespuckt wurden von dieser multinationalen Landwirtschaftsindustrie."
Die Jesusfigur von Milo Rau ist kein Heilsbringer, sondern ein politischer Aktivist. In dem dokumentarischen Teil des Films geht er in die Flüchtlings-Lager, hält mitreißende Reden und vergrößert so seine "Jüngerschar", die ihm dann nach Matera zu einer großen öffentlichen Kundgebung folgen wird.
Tomaten - das rote Gold
Jesus wird zum Anstifter der "Revolte Della Dignita", der "Revolte der Würde". Eine Kampagne, die ein Bleiberecht und bessere Arbeitsbedingungen für die Plantagenarbeiter fordert. Er mache da eigentlich das Gleiche wie immer, meint Schauspieler Yvan Sagnet, der den Jesus darstellt.
Vor zwölf Jahren kam er für ein Ingenieursstudium nach Turin. Als sein Stipendium dort auslief, verdingte er sich im Süden als Tomatenpflücker. Er erfuhr am eigenen Leib, was es heißt, als moderner Lohnsklave völlig entrechtet zu arbeiten.
14 Stunden am Tag, für einen Hungerlohn, in einem mafiösen System. Mit Mittelsmännern, die den Feldarbeitern noch mal einen Teil ihres Lohns für den Transport und die tägliche Verpflegung abnehmen. Manchmal sei er mit nur 4 Euro Lohn zurückgekommen, berichtet Sagnet.
Gegenwind von der Mafia
Yvan Sagnet organisierte den ersten Streik in der Landwirtschaft Italiens. Und tatsächlich wurden die Arbeits-Schutz-Gesetze verschärft. Doch viele der Flüchtlinge sind illegal im Land und damit nach wie vor der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgesetzt. Und den mafiösen Strukturen in den Flüchtlingslagern.
Auch Regisseur Milo Rau bekam Gegenwind. Als er in einem Lager, das kurz darauf geräumt wurde, Protagonisten für seinen Film castete, streute die dortige Mafia die Info, die Polizeiaktion hätte mit dem Filmdreh zu tun. Ein böswilliges Gerücht, die Räumung war schon vorher geplant gewesen.
Projekt zum Schutz der Flüchtlinge
Die Lebensverhältnisse, speziell in den illegalen Flüchtlingslagern sind katastrophal. Aber ohne diese Zufluchtsorte stehen die Flüchtlinge auf der Strasse. "Sie sollten die Lager nicht räumen, ohne den Menschen eine Alternative anzubieten, sonst haben sie gar nichts", empört sich Papa Latyr Faye. Herve, so wird er von allen genannt, spielt im neuen Film von Milo Rau den Apostel Petrus.
Er kommt aus dem Senegal und hat gemeinsam mit Mbaye Ndaye, ebenfalls Apostel und Senegalese, die "Casa Sankara" aufgebaut. Das selbstverwaltete Zentrum für Flüchtlinge ist das einzige in der Region. 300 Menschen können hier in festen Häusern unterkommen. Herve vermittelt denjenigen, die Papiere haben, Arbeit auf den Feldern - zu geregelten Bedingungen, Und er hilft den Flüchtlingen ohne Bleiberecht mit Rechtsanwälten.
Ein Vorzeigeprojekt, das auch im Film vorkommt. Dass er als Muslim einen Apostel spielt, sieht Herve nicht als Problem. Im Gegenteil. "Ich habe viel über Petrus gelernt", erzählt er im DW-Interview. Und endlich würden Schwarze mal die Hauptrolle in dieser großen religiösen Erzählung spielen und mit ihren Forderungen wahrgenommen werden.
Auferstehung der biblischen Botschaft
Milo Raus filmische Revolte zeigt schon jetzt Wirkung. Die Plattform der Unterstützer und Organisationen, die sich der Kampagne für eine gerechtere Welt anschließen, wächst stündlich und täglich. Supermärkte interessieren sich plötzlich für die Fairtrade-Produkte von Yvan Sagnet, Kleinbauern und die Casa Sankara entwickeln gemeinsam Anbau- und Vertriebskonzepte. Italienische Lokalpolitiker und selbst die katholische Kirche sind aufmerksam geworden.
Bei der großen Abschlusskundgebung mit symbolischer Kreuzabnahme und Auferstehung in Rom waren auch Kirchenvertreter anwesend. Für den politischen Aktivisten Milo Rau ein Zeichen, dass die Botschaft seines Jesus im Film gehört wird und sich verbreitet.
Das sei sein Verständnis von Auferstehung, meint er. Eine Kampagne, die dank des umtriebigen Vernetzungskünstlers auch in Afrika und selbst bei der Landlosenbewegung in Brasilien Gehör findet.
Der Schweizer Milo Rau, Jg. 1977, denkt nicht nur global, er erweist sich mit diesem Filmprojekt erneut als politisch ambitionierter Kämpfer. Ob gegen die Coltan-Minen im Kongo, die Goldraffinerien in der Schweiz oder eben die Ausbeutung auf den Tomatenplantagen in Süditalien, ihm geht es um die großen wirtschaftlichen Macht- und Gewaltverhältnisse.
Wenn Jesus und seine Jünger in seinem Film "Das Neue Evangelium" auf einem Kirchenvorplatz in Matera kiloweise Tomaten zertreten, dann wenden sie sich symbolisch auch gegen die ausbeuterischen Großkonzerne und Handelsketten. Eben gegen diejenigen, die auf Kosten der Entrechteten ihren Profit machen. Damit wir, in Mitteleuropa, billig einkaufen können.