Mit der Eisenbahn aufs Dach der Welt
1. Juli 2006Exakt 389 Yuan, umgerechnet 35 Euro, kostet die Reise - wenn man die preiswerteste, in China allerdings nicht eben selten genutzte Kategorie der so genannten Hartsitz-Plätze wählt - also ohne die Möglichkeit, sich zum Schlafen hinzulegen. Dabei ist allerdings viel Stehvermögen gefragt: Die Strecke zwischen Peking und Tibet ist fast 4100 Kilometer lang, fünf Mal so weit wie beispielsweise von Hamburg nach München. Und die Fahrzeit beträgt satte 48 Stunden. Allerdings: Gegen Zahlung eines Zuschlags kann man auch in den komfortableren Schlafwaggons unterkommen. Auch dort gibt es zwei Kategorien zur Auswahl: so genannte Hart- und Weich-Schlafplätze.
Bahnhof in 5068 Metern Höhe
Die Strecke zwischen Peking und Golmud in der Provinz Qinghai existiert freilich schon länger. Neu und Aufmerksamkeit erregend ist der Abschnitt zwischen Golmud und Lhasa, der auf das tibetische Hochland hinaufführt. Das 3,3 Milliarden Euro teure Bauprojekt hat drei Jahre gedauert. Zugleich bricht die Strecke zwei Weltrekorde: Sie ist nun die höchste Eisenbahnstrecke der Welt, denn fast die Hälfte der Strecke befindet sich auf einer Höhe von 4000 Metern über dem Meeresspiegel, teils auch noch deutlich darüber. Und sie fährt auch den höchstgelegenen Bahnhof der Welt an. Denn der Bahnhof Tanggula befindet sich auf der Höhe von 5068 Meter über dem Meeresspiegel - 300 Meter höher als der Mont Blanc.
Doch das ehrgeizige und mit viel chinesischem Nationalstolz befrachtete Projekt ist kontrovers. Selbst Wissenschaftler, die an dem Projekt mitgewirkt haben, sehen den Start mit einem lachenden und einem weinenden Auge. So auch Li Bosheng, Professor an der Chinesischen Akademie für Wissenschaften in Peking: "Die Eisenbahnlinie zwischen Golmud und Tibet hat gravierende Auswirkungen auf die Umwelt. Die Linie erstreckt sich vom Süden nach Norden durch die Kerngebiete des tibetischen Hochlands. Der Bau hat die Vegetation und die Landschaft zerstört." Die Vielfältigkeit des Lebens dort gerate damit in Gefahr.
Sauerstoffmasken wie im Flieger
Auf dem Tibet-Plateau wachsen seltene Pflanzen unter extremen Bedingungen. Sie sind zugleich die wichtigste Nahrung für ebenfalls seltene Tiere wie die tibetsche Antilope. Würden die Pflanzen durch ein groß angelegtes Bauprojekte zerstört, dann könnten bald auch die Tiere aussterben, befürchtet Li. Der Professor beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Schutz von Pflanzen in Tibet. Seine Vorschläge wurden jedoch nur in zwei der vier Bauabschnitte umgesetzt. Für die Umsetzung in den zwei anderen kämpft der 60jährige weiter: "Im Labor sind uns die Schutzmaßnahmen für die restlichen zwei Abschnitte gelungen. Dennoch konnten wir bislang keine Experimente vor Ort durchführen. Es gibt noch kein zuverlässiges Konzept auf wissenschaftlicher Basis. Wie und ob wir weitermachen, und ob die Ergebnisse umgesetzt werden dürfen - das hängt vom politischen Willen ab."
Für die Passagiere im Zug ist ein anderes Naturprodukt entscheidend: Sauerstoff. Da im tibetischen Hochland der Sauerstoffgehalt nur halb so hoch ist wie im Flachland, wird zusätzlicher Sauerstoff in den Zug gepustet. Ähnlich wie im Flugzeug hat jeder Passagier eine Atemmaske - für den Notfall. Auch Ärzte fahren mit, um Menschen zu versorgen, die plötzlich anfangen, an der Höhenkrankheit zu leiden.
Wirtschaftlicher Nutzen
Chinas Regierung begründet das Projekt aber weniger mit der Attraktion, die es aus Sicht von Eisenbahn-Fans oder in- und ausländischen Touristen haben mag, als vielmehr mit dem wirtschaftlichen Nutzen: Die Kapazität für den Güterverkehr nach Tibet wird durch die Strecke deutlich gesteigert.
Exil-Tibeter hegen jedoch die Befürchtung, dass nun noch mehr Chinesen in ihr Gebiet kommen und die Tibeter zu einer Minderheit im eigenen Land machen. Totem Sambhel, Anhänger des einst vor Chinas Kommunisten geflüchteten Dalai Lama und Mitglied der tibetischen Exil-Regierung: "Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, hat erklärt, dass die Verbindung zwischen Golmud und Lhasa als Entwicklung von Infrastruktur derzeit durchaus von Interesse ist. Aber er hat kein Urteil darüber abgegeben, ob diese Eisenbahnverbindung dem tibetischen Volk zugute kommt oder nicht." Die Strecke an sich sei kein Problem für die Menschen im Tibet. Das Problem sei, wie die Bahn genutzt würde. Wenn die Volksrepublik China beabsichtigte, mit der Zugverbindung die Tibeter in ihrer eigenen Region in eine Minderheit umzuwandeln, dann müsse man Bedenken äußern, um eine Katastrophe zu verhindern.
Die Tibeter kämpfen schon seit Jahrzehnten um den Erhalt ihrer kulturellen Identität, die nach ihrem Verständnis bereits durch die massenhafte Ansiedlung von Chinesen stark bedroht ist. Die Zugverbindung, die künftig einmal täglich nach Tibet führen soll, könnte noch viel mehr Chinesen nach Tibet locken, fürchtet Sambhel: "Wenn die Tibet-Frage in absehbarer Zeit nicht freundschaftlich zu lösen ist, dann könnte die Eisenbahnlinie die infrastrukturelle Voraussetzung dafür schaffen und die Migration von weiteren Chinesen nach Tibet beschleunigen." Die tibetische Identität sei dadurch in Gefahr.