"Mit wem sympathisieren denn die ARD-Korrespondenten
15. November 2002Moskau, 15.11.2002, KOMMERSANT, ISWESTIJA
KOMMERSANT, russ., 15.11.2002, Gennadij Syssojew
In den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland reift ein neuer Skandal heran. Die russische Botschaft in Berlin hat die deutschen Medien, vor allem das Erste Deutschen Fernsehen ARD, wegen der Berichterstattung über die kürzliche Geiselnahme in Moskau scharf kritisiert. (...)
Gestern wurde bekannt, dass der Pressesprecher der russischen Botschaft Michail Grobar ein entsprechendes Schreiben an den ARD-Vorsitzenden Fritz Pleitgen gerichtet hat. Im Schreiben wird darauf verwiesen, dass "die Art, wie die ARD über die Geiselnahme" von fast 800 russischen und ausländischen Bürgern "durch tschetschenische Separatisten berichtet hat, schockierend und gänzlich unhaltbar ist". Die Botschaft der Russischen Föderation zweifelt daran, "ob die ARD-Korrespondenten imstande sind, objektiv zu arbeiten", und stellt fest, dass es davon, "wie die weitere Berichterstattung ausfällt", abhängen wird, "ob die Zusammenarbeit russischer Vertretungen mit der ARD und Korrespondenten dieses Senders in Russland in gewohntem Umfang fortgesetzt werden kann".
Es ist eigentlich nicht ungewöhnlich, dass Presseabteilungen der Botschaften ihre Unzufriedenheit über Material in den lokalen Medien äußern. Gewöhnlich wird das jedoch ohne unnötigen Lärm gemacht. Außerdem folgt die Reaktion der Botschaft in der Regel gleich nach der Veröffentlichung oder Ausstrahlung der ihr nicht genehmen Reportagen oder Artikel. Diesmal hat die Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland beschlossen, dem deutschen Sender öffentlich die Leviten zu lesen (das Schreiben ist auf der Internetseite der Botschaft zu finden) und das erst drei Wochen nach dem Geiseldrama und das heißt auch nach der Ausstrahlung der "schockierenden und unhaltbaren" Berichte durch die ARD.
Das alles kann nur durch eines erklärt werden: der wichtigste Anlass für die Botschaft war allem Anschein nach nicht der Wunsch, mit der ARD Tacheles zu reden und die Wahrheit wieder herzustellen, sondern das Bestreben, nicht in die Nachhut des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus, dessen Komplizen und Anhänger zu geraten. (...) (lr)
ISWESTIJA, russ., 15.11.2002, Aleksandr Polozkij
(...) Folgendes wurde mir bei der russischen Botschaft in Berlin mitgeteilt: "Ein entsprechendes Schreiben wurde an Herren Fritz Pleitgen gerichtet, den ARD-Vorsitzenden. Die ARD ist bekanntlich ein öffentlicher Sender, der von den Steuern (sic) der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland lebt. Außerdem wurde der Wortlaut des Schreibens im Internet, auf der Website der russischen Botschaft in Deutschland veröffentlicht."
Die russischen Diplomaten empören sich am meisten über die Tatsache, dass die ARD in ihren Berichten über das Geiseldrama von "völlig verzweifelten" tschetschenischen Kämpfern sprach und dem Kreml vorwarf, ihm sei "nicht an einer politischen Lösung für den Konflikt in Tschetschenien gelegen".
"Man beginnt allmählich daran zu zweifeln, ob die ARD-Korrespondenten imstande sind, objektiv zu arbeiten", heißt es im Schreiben der russischen Botschaft an Pleitgen, der übrigens mehrere Jahre als Fernsehkorrespondent in Moskau tätig war. Die Verfasser des Schreibens erinnern daran, dass "für den Alltag in der sogenannten Republik Itschkerija während ihrer ‚Unabhängigkeit‘ – von 1996 bis 1999 – menschenfeindliche Scharia-Gesetze, öffentliche Hinrichtungen, Geiselnahmen mit dem Ziel, Geld zu erpressen, offener Sklavenhandel auf den Plätzen der Städte, Drogen und Waffenschmuggel charakteristisch waren. Schulen und Krankenhäuser wurden geschlossen, Renten nicht ausgezahlt".
"Mit wem sympathisieren denn letztendlich die ARD-Korrespondenten – mit den Verbrechern oder den Opfern?" fragen die russischen Diplomaten. (lr)