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Politik

Was Russlands Einberufene erzählen

Sergey Satanovskiy
30. September 2022

Berichte über Probleme und Willkür bei der sogenannten Teilmobilmachung in Russland mehren sich. Die DW hat von Russen und Menschenrechtlern erfahren, mit welchen Verstößen Betroffene zu kämpfen haben.

Russland | Russische Rekruten in Krasnodar
Mobilmachung in der Nähe der südrussischen Stadt KrasnodarBild: AP/dpa/picture alliance

Rentner, Behinderte, Menschen ohne Kampferfahrung und Männer, die noch nicht einmal in der Armee gedient haben - Einberufungsbescheide gehen in Russland derzeit auch an Angehörige dieser Gruppen. Das bestätigen Beobachter, mit denen die DW über die Arbeit der russischen Einberufungsämter gesprochen hat.

Eine Woche nach der Rede von Präsident Wladimir Putin, in der er die sogenannte "Teilmobilmachung" angeordnet hatte, wurden bereits Tausende von Männern in die russische Armee eingezogen, die seit Februar einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Beobachtern zufolge widerspricht die jetzt laufende Rekrutierung allerdings in vielen Fällen den Vorgaben des Verteidigungsministeriums.

Missachtung des Alters

"Am Sonntagmittag kam der Bescheid. Schon um 14 Uhr musste mein Mann beim Einberufungsamt erscheinen. Dort wurde er registriert, er musste seine Papiere abgeben und um 17.30 Uhr ging es mit dem Bus zur Ausbildung", berichtet die Frau des 39-jährigen Igor (alle Namen sind im Text aus Sicherheitsgründen geändert). Seinem Alter und Rang als Sergeant der Reserve nach hätte Igor, der in Moskau lebt, gar nicht eingezogen werden dürfen. Denn Männer in diesem Rang, die älter als 35 sind, fallen nicht unter die sogenannte "Teilmobilmachung". Entsprechende Vorgaben hatte das Verteidigungsministerium unmittelbar nach Putins Anordnung gemacht. Doch Igor wurde, wie er seiner Frau mitteilte, zusammen mit rund 120 weiteren Personen eingezogen, deren Alter das zulässige überschreitet.

Mobilmachung im sibirischen Tara in der Region OmskBild: Alexey Malgavko/REUTERS

Doch dies ist nicht der einzige Verstoß, mit dem Igor konfrontiert wurde. Seine Frau berichtet, im Einberufungsamt sei keine ärztliche Untersuchung durchgeführt worden, obwohl es laut dem Gesetz "Über die Mobilmachung" dazu verpflichtet sei, die Eignung für den Militärdienst zu bestimmen. Hinzukommt, dass Igors Tätigkeitsbezeichnung geändert wurde. "In seinem Militärausweis steht Kavallerist der Grenztruppen. Jetzt sagt Igor, man habe ihm die Funktion eines Schützen bei der Artillerie zugewiesen", so die Frau. Sie betont aber, dass ihr Mann die Einberufung trotz der Verstöße nicht anfechten werde.

Heimkehr nach Beschwerde

Es gibt es aber auch Fälle, in denen fälschlich eingezogene Männer wieder nach Hause geschickt wurden. So erging es beispielsweise einem Soldaten der Reserve ohne Kampferfahrung. Er wurde eingezogen, obwohl er schon 43 Jahre alt ist. "So etwas passiert, weil die Einberufungsämter vor Ort Chaos anrichten und willkürlich Bescheide verschicken. Das wurde mir an allen Hotlines bestätigt", erzählt seine Ehefrau Oksana empört der DW.

Die Frau aus Moskau schrieb Beschwerden und ging danach persönlich zum Einberufungsamt. Daraufhin durfte ihr Mann nach Hause. "Jetzt ist er von der Stadt Serpuchow auf dem Heimweg", so Oksana. Ob das dank ihrer Beschwerden "an alle Instanzen" möglich geworden ist oder ob jemand im Amt seinen Fehler bei der Einberufung ihres Mannes bemerkt hat, weiß sie nicht.

Mehr Einberufene als nötig

Dass Mitarbeiter von Einberufungsämtern ihre Bescheide offenbar ändern können, vermutet auch Konstantin, Schauspieler aus Tscheljabinsk im Südosten des Ural. Er wurde vom Leiter der Verwaltung des Dorfes, in dem er gemeldet ist, aber nicht wohnt, inoffiziell telefonisch darüber informiert, er werde einen Einberufungsbescheid bekommen. Doch Konstantin hat nur ein Jahr in der Armee gedient und verfügt über keine Kampferfahrung. Einen Tag nach dem Anruf bekam Konstantin jedoch die erleichternde Nachricht, er werde doch nicht eingezogen. "Wie ich verstehe, haben sie genug Leute. Es gab eine riesige Schlange vor dem Einberufungsamt. Mein Freund hatte einen Bescheid bekommen und stand dort an, aber als er an die Reihe kam, hieß es, er werde nicht mehr gebraucht", erzählt Konstantin.

Werbung für einen Vertrag zum Dienst in der russischen Armee in Rostow am DonBild: Sergey Pivovarov/REUTERS

Er betont, selbst wenn das Amt nicht die von ihm geforderte Anzahl von Männern rekrutiert hätte, wäre er nicht dorthin gegangen. "Wenn ich wüsste, wofür genau ich hätte kämpfen sollen, wäre ich vielleicht hingegangen und einem Einberufungsbescheid gefolgt. Aber das ist jetzt nicht wie im Großen Vaterländischen Krieg. In einer solchen Situation wäre alles klar gewesen. Aber die Situation heute ist seltsam", so der junge Schauspieler.

Anwalt: Bescheid keine Folge leisten

Alexander Belik, Anwalt der russischen "Bewegung der Kriegsdienstverweigerer", weist darauf hin, dass zwischen den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und Putins Anordnung Unklarheiten bestehen. "Am Erlass des russischen Präsidenten wurden keine Änderungen vorgenommen, er sieht keine Altersbeschränkung für die Mobilmachung vor", so Belik.

Seine Organisation hat vor allem mit zwei Rechtsverstößen zu tun. "Sie schnappen sich jeden, den sie erwischen, und machen keine Gesundheitsuntersuchung. Das heißt, sie nehmen einfach die vor vielen Jahren bestimmten Eignungen", erläutert der Jurist. Denjenigen, die Hilfe suchen, rät Belik, den Einberufungsbescheiden keine Folge zu leisten und lieber die Androhung einer Verwaltungsstrafe von 3000 Rubel (rund 53 Euro) in Kauf zu nehmen. Und denjenigen, die bereits in einer Ausbildung sind und nicht in den Krieg ziehen wollen, empfiehlt er, einen Antrag auf Zivildienst zu stellen und den Truppenübungsplatz schnellstens zu verlassen. "Dann muss man gegen das Einberufungsamt und die für die Mobilmachung zuständige Kommission klagen", erläutert Belik.

Erste personelle Konsequenzen

In den vergangenen Tagen haben bereits mehrere russische Gouverneure Verstöße seitens der Einberufungsämter während der "Teilmobilmachung" eingeräumt. Sie versprechen, sich schnell um jeden Fall zu kümmern und diejenigen, die versehentlich eingezogen wurden, nach Hause zurückzuschicken.

In der Region Magadan im Nordosten Russlands hat beispielsweise der Militärkommissar Sergej Baranowski bereits seinen Posten "aufgrund von Fehlern bei der Teilmobilmachung" verloren. Das meldet der Gouverneur Sergej Nosow. Auf seine Bitte hin habe das Kommando des Wehrkreises Ost einen neuen Kommissar entsandt - "einen Berufsoffizier, der in die Arbeit des Einberufungsamtes wieder Ordnung gebracht hat", so Nosow.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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