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Moderne Sklaverei bei VW-Brasilien?

13. Juni 2022

Volkswagen soll in den 1970er-Jahren brasilianische Leiharbeiter unter unmenschlichen Bedingungen beschäftigt haben. Die Justiz ermittelt. Können Opfer moderner Sklaverei in Brasilien auf Entschädigung hoffen?

Brasilien: VW-Rinderfarm im Amazonas (um 1978)
VW-Rinderfarm im Amazonas (um 1978): Willkommen auf der "Fazenda Volkswagen"Bild: Wolfgang Weihs/picture alliance

"Volkswagens Tochterfirma in Brasilien ist verantwortlich für schwere Menschenrechtsverletzungen und abscheuliche Verbrechen", sagte der brasilianische Staatsanwalt Rafael Garcia der ARD. "Wir sind davon überzeugt, dass Volkswagen seine Verantwortung anerkennen wird und es zu einem Vergleich kommt, damit die Arbeiter von damals entschädigt werden."

Garcia koordiniert seit 2015 die Ermittlungen wegen moderner Sklaverei in ganz Brasilien. Am 14. Juni hat er nun erstmals Vertreter von Volkswagen do Brasil ins Ministerium nach Brasília einbestellt. Es geht um eine mögliche außergerichtliche Vereinbarung über Entschädigungen.

Rinderfilet made by VW

Die Ermittlungen reichen in die Zeit der brasilianischen Militärregierung (1964 - 1985) zurück. Auf Einladung der Generäle kaufte VW 1973 in der Amazonasregion 140.000 Hektar Land. Die Farm "Fazenda Vale do Rio Cristalino", bekannt unter dem Namen "Fazenda Volkswagen", im Ort Santana de Araguaia im Bundesstaat Pará, sollte dem Konzern ein neues zusätzliches Geschäftsfeld eröffnen. 

Ein Autokonzern, der mitten im Urwald Rinder züchtet? Was heute nach einem abenteuerlichen Vorhaben klingt, war damals Teil der nationalen Entwicklungsstrategie. Volkswagen sollte zur Erschließung des brasilianischen Regenwaldes beitragen - und damit nicht nur Geld verdienen, sondern auch dem Motto "integrar para nao entregrar" der Militärs folgen: "Eigene Ressourcen nutzen, statt sie preiszugeben".

Rinderzucht auf der VW-Farm: Rodung von großen Regenwaldflächen nötigBild: Wolfgang Weihs/picture alliance

Für die Rinderfarm von VW mussten große Teile des Grundstücks gerodet werden. Mit der Abholzung des Regenwaldes beauftragte das damalige Farmmanagement mehrere Arbeitsvermittler, die Leiharbeiter in den entlegenen Dörfern der Region rekrutierten und diese zur Farm transportierten.

"Ihr müsst eure Schulden abarbeiten"

Doch statt der versprochenen lukrativen Jobs sahen sich die Leiharbeiter mit Ausbeutung und Schuldknechtschaft konfrontiert. "Auf der Farm konnte man nur Nahrungsmittel zu absurd teuren Preisen kaufen", erinnert sich der ehemalige Arbeiter José Pereira. "Als wir die ersten hundert Hektar gerodet hatten, hatten wir hohe Schulden beim Arbeitsvermittler. Er sagte: 'Ihr wollt gehen? Nein! Jetzt müsst Ihr eure Schulden abarbeiten'."

José Pereira und seine Kollegen sind Hauptzeugen bei den Ermittlungen der brasilianischen Staatsanwaltschaft gegen Volkswagen. Sie erzählen von Fesselungen nach Fluchtversuchen, von  Arbeit mit vorgehaltener Waffe und sogar von Todesfällen. Die Gespräche wurden auch vom ARD-Fernsehmagazin "Weltspiegel" aufgezeichnet. 

Ex-Leiharbeiter Pereira (im ARD-Interview): "Wer fliehen wollte, wurde angeschossen oder verprügelt"Bild: ARD

"Wenn jemand versuchte zu fliehen, sind die Aufpasser hinter ihnen her und haben sie angeschossen", berichtet Pereira. "Sie haben diejenigen, die geflohen waren, verprügelt. Auf der Straße, in den Hütten, alle haben es gesehen."

Priester dokumentiert Misshandlungen

Basis der Ermittlungen und Aufzeichnungen ist die Dokumentation des Priesters und Professors Ricardo Rezende. Rezende war damals für die Seelsorge von Landarbeitern in der Amazonasregion zuständig. Sein Einsatz brachte ihm regelmäßig selbst Morddrohungen ein.

Rezende dokumentierte mehrere hunderte Fälle. Doch über 40 Jahre lang passierte gar nichts. Als VW sich 2020 seiner historischen Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in Brasilien während der Militärdiktatur stellte und Entschädigungen an die Opfer zahlte, sah Rezende eine neue Chance und überreichte sein gesamtes Material der brasilianischen Staatsanwaltschaft.

"Ich hoffe, Volkswagen erkennt an, dass diese Verbrechen nicht hätten geschehen dürfen, entschädigt die Opfer und legt die Namen all derer offen, die auf der Farm unter sklavenähnlichen Bedingungen gearbeitet haben, denn wir kennen nur einen Teil der Fälle", erklärt er im DW-Interview.

Rezende ist sich sicher, dass "das brasilianische und das deutsche Management von VW von den Verbrechen wussten". So seien bei einem organisierten Besuch auf der Ranch im Jahr 1983 die Arbeiter versteckt worden.

"Sie wollten nicht zeigen, wie die Arbeitsbedingungen und die sanitären Verhältnisse sind", so Rezende. "Sie behandelten die Arbeiter schlechter als das Vieh. Für die Rinder gab es gutes Futter, gute Weiden, Veterinärmedizin und wissenschaftliche Forschung. Für die Arbeiter gab es nichts."

Seelsorger und Forscher Rezende: Mehrere hundert Fälle dokumentiertBild: privat

Am 22. Mai wurde Rezende vom Stadtparlament in Rio nun wegen seines Einsatzes gegen moderne Sklaverei zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Der Priester, der zu diesem Themenschwerpunkt an der Bundesuniversität "Universidade Federal do Rio de Janeiro" (UFRJ) forscht und unterrichtet, ist mittlerweile in ganz Brasilien bekannt.

Moderne Sklaverei weiterhin verbreitet

Knapp 40 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur kämpft die mit der katholischen Kirche verbundene Landarbeiterseelsorge "Commissao Pastoral da Terra" (CPT) immer noch gegen sklavenähnliche Arbeitsbedingungen im Land.

"Sklavenarbeit in angepasster Form gibt es in allen brasilianischen Bundesstaaten", heißt es in einem Statement der CPT. "Seit 1995 sind mehr als 58.000 Menschen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit worden."

Für den ehemaligen Farmmanager Friedrich Brügger sind die Vorwürfe der modernen Sklaverei auf der VW Farm "völliger Blödsinn". Dem Weltspiegel sagte: "Das ist an den Haaren herbeigezogen. Als wenn es heute nichts Wichtigeres gäbe, als die Vergangenheit zu verbessern."

Der Schweizer Agronom begann 1974 mit dem Aufbau der Rinderzucht und war über zwölf Jahre lang Manager der Fazenda. 1986 verkaufte VW die Farm, das Geschäft lohnte sich nicht mehr. Brügger ist nach 40 Jahren in Brasilien in die Schweiz zurückgekehrt.

"Es geht nicht immer zart zu"

Für ihn "hört die Verantwortung eines Unternehmens irgendwo auf". Man müsse auch die Umstände sehen: "Wo über 1000 Männer auf einem Raum sind, geht es nicht immer zart zu. Das liegt auf der Hand. Vor allem mitten im Urwald", so Brügger.

Bei Volkswagen lösten die Äußerungen des ehemaligen Managers alles andere als Begeisterung aus. In einem Statement gegenüber der DW erklärte das Unternehmen:  "Wir möchten darauf hinweisen, dass Herr Friedrich Brügger nicht für die Volkswagen AG spricht und dass seine Aussagen den Werten von Volkswagen widersprechen". VW nehme "die geschilderten Vorgänge auf der Fazenda Rio Cristalino sehr ernst".