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Politik

Monsun bedroht Erdbebenopfer

Alys Francis (Adaption: Jan D. Walter)17. Mai 2015

In Nepal steigt die Kriminalität gegen Erdbebenopfer. Zusätzliche Gefahren bringt die bevorstehende Regenzeit. Die Kritik an der nepalesischen Regierung reißt nicht ab. Alys Francis berichtet aus Kathmandu.

Nepal Erdbeben: Zeltstadt im Tundikhel-Park in Kathmandu (Foto: DW/A. Francis)
Bild: DW/A. Francis

Anhita Pahari und ihr zehnjähriger Sohn Suman quetschen sich mit sechs weiteren Familien in ein Zelt im Tundikhel-Park mitten in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Nur notdürftig schützt die Unterkunft sie vor der Witterung und anderen Gefahren: "Die Enge ist erstickend", sagt Pahari, während sie vor dem Zelt in einem Eimer Kleidungsstücke einseift, "es ist heiß hier drinnen und einige Menschen fühlen sich schon fiebrig."

Drei Wochen ist es her, dass Pahari aus einem Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stock sprang, als ein Erdbeben der Stärke 7,8 das ehemalige Königreich im zentralen Himalaya erschütterte und Paharis Haus zum Einsturz brachte.

Das Erdbeben gilt als das schlimmste in Nepal seit mehr als 80 Jahren. Sein Epizentrum lag mitten im Land, 80 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kathmandu, die seither im Chaos versinkt. Nach einer Reihe von Nachbeben - das heftigste ereignete sich am 12. Mai mit einer Stärke von 7,3 - beziffern die Behörden die Zahl der Todesopfer derzeit auf mindestens 8500. Zehntausende Menschen sind verletzt und rund eine halbe Million Häuser zerstört. Es gilt als wahrscheinlich, dass weitere Opfer unter den Trümmern gefunden und noch mehr Bewohner an den Folgen der Katastrophe sterben werden.

Anhita Pahari fürchtet sich vor Kriminellen. Hilfsorganisationen bestätigen Gewaltakte - vor allem gegen FrauenBild: DW/A. Francis

Hunderttausende haben ihre Wohnungen verloren. Die Regenzeit, die Ende Mai beginnt, werden Anhita Pahari und ihr Sohn Suman wohl mit Fremden unter der dünnen Plane ihrer Notbehausung überstehen müssen.

Doch mehr Sorgen als das Wetter bereiten Pahari Gefahren, die von anderen Menschen ausgehen: "Nachts versuchen Leute, in das Zelt einzudringen und uns zu bestehlen." Nachrichten von sexueller Gewalt, Verbrechen und Diskriminierung von Menschen niederer Kasten in offiziellen Notlagern und behelfsmäßigen Hütten machen auch unter Helfern die Runde. Ungewöhnlich sei das allerdings nicht, sagt Devanna de la Puente, Sicherheitsberaterin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen UNFPA. Nach Katastrophen nutzten bestimmte Personen fast immer die Schutzlosigkeit ihrer Mitmenschen aus. Besonders gefährdet seien in Nepal Frauen ohne männlichen Schutz und Mitglieder der unteren Kasten, die ihr soziales Netzwerk verloren haben.

Regenzeit bedroht Bergdörfer

Die nahende Regenzeit bedroht vor allem Betroffene in abgeschiedenen Regionen. Nichtregierungsorganisationen versuchen zu helfen, aber: "Wir können nicht überall vor Ort sein", sagt de la Puente, "und die Nachbeben haben die Helfer wieder zurückgeworfen und noch mehr Orte in Not gestürzt." Vor allem die entlegenen Dörfer nahe der chinesischen Grenze sind nur mit Hubschraubern oder über steile Pfade in stundenlangen Märschen zu erreichen. Wenn erst einmal der Monsun einsetzt, werden sie vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten sein. Zwei Monate etwa dauert in Nepal die Regenzeit. Erst dann, wenn der Monsun vorbei ist und der Himmel aufklart, soll der Wiederaufbau beginnen.

Entlegene Regionen - wie hier im Distrikt Dolakha - sind besonders vom Monsun bedrohtBild: DW/A. Francis

Doch im Distrikt Dolakha, wo das Epizentrum des zweiten Bebens lag, sei selbst daran nicht zu denken, sagt Tibendra Banskota von der Katastrophenhilfe von Plan International. Viele der Terrassenhänge sind seit dem Beben mit Rissen übersät. "Es gibt keinen geeigneten Platz, um Häuser wiederaufzubauen", so Banskota. Den Helfern bleibt nur, die zerstörten Orte zu evakuieren, und ihren Bewohnern, eine neue Heimat zu suchen. Wenn die Menschen kein neues Siedlungsland erhalten, sagt Banskota, werde der Monsun ein zweites Desaster anrichten.

Dabei wissen die Hilfsorganisationen nicht einmal, wie viele Personen in den verstreuten Dörfern Hilfe benötigen. "Es ist derzeit kaum zu sagen, wie viele Menschen unter freiem Himmel schlafen müssen", sagt Jamie McGoldrick, der die UN-Hilfe in Nepal koordiniert.

Die Vereinten Nationen versuchen, Hilfsgüter in die entlegenen Regionen der am schlimmsten betroffenen Distrikte des Landes zu bringen, bevor der Monsun einsetzt. Sie verladen sie in Hubschrauber, schicken Teams mit Lebensmitteln los, wollen eventuell sogar Lastenträger aus der Bevölkerung einsetzen. "Es ist ein Rennen gegen die Zeit", sagt UN-Koordinator McGoldrick.

Regierungshilfe unbefriedigend

Nach Ansicht vieler Nepalesen beteiligt sich die Regierung in Kathmandu eindeutig zu wenig an diesem Rennen: Sie habe viel zu langsam auf das Erdbeben reagiert, lautet ein verbreiteter Vorwurf. Innenminister Bam Dev räumte nach dem ersten Beben ein, die Behörden seien "nicht vorbereitet" gewesen, kündigte dann aber an, einen milliardenschweren Hilfsfonds für Soforthilfen und Wiederaufbau aufzusetzen.

Die Opfer schimpfen, dass bisher keine Entschädigungen für Hinterbliebene und obdachlos gewordene Menschen ankämen. Patienten und ihre Angehörige im staatlichen Bir-Krankenhaus berichten, die Behandlungen seien - entgegen der Versprechen - keineswegs kostenlos. "Wir mussten für die Röntgenaufnahmen und die Verbände bezahlen", sagt Amrita Magar, während sie die Bettdecke ihres Bruders Anoj zurechtrückt, um seinen Gipsarm zu bedecken. Der Elfjährige sei gestolpert, als er aus dem einstürzenden Wohnhaus der Familie floh. "Ich dachte, es gäbe mehr Hilfe von der Regierung."

Amrita Magar hadert mit der Regierung: Sie musste entgegen der Versprechen für die Behandlung ihres Bruders bezahlenBild: DW/A. Francis

Auch Krankenhausleiter Swyam Prakash Pandit wartet auf Regierungsgelder, um die "kostenlose" Behandlung von mehr als 1500 Erdbebenopfern zu bezahlen. "Bisher haben wir das Geld nicht erhalten", sagt Pandit. Er rechne aber damit, dass es irgendwann ankomme. Gemeinhin wird die Bürokratie für die schleppende Hilfe verantwortlich gemacht. Erst nach Aufforderung der Vereinten Nationen lockerte die Regierung die Zollvorschriften an Nepals einzigem internationalen Flughafen in Kathmandu, um den Nachschub an Hilfsgütern zu erleichtern.

Unterdessen haben sich die Obdachlosen damit abgefunden, sich selbst zu helfen. "Die Regierung hat uns nicht geholfen, als wir es gebraucht hätten", sagt Krishna Bahadur Khadka, der nach Kathmandu gekommen ist, nachdem sein Haus in Dolakha eingestürzt ist. "Nun wissen wir", sagt er, "dass sie nur eine Bande von Dakas sind" - von Gangstern also.

Jetzt schläft Khadka in einem Zelt mit sieben Familien, wie Anhita Pahari und ihr Sohn Suman. Pahari und ihre Mitbewohner zeigen, wie diese Selbsthilfe funktioniert: Sie haben Geld zusammengelegt, um Matten zu kaufen, mit denen sie den Grasboden ihres Zeltes bedecken, und Lebensmittel, um die kleinen Portionen Nudeln und Kekse zu ergänzen, die sie als Tagesration erhalten. "Wir haben versucht, ein Zimmer zu finden, aber die Menschen vermieten keine Räume mehr", sagt Pahari. "Praktisch nirgendwo."

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