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Politik

Montenegro: Der schwierige Epochenwandel

30. August 2021

Vor einem Jahr erlitt das drei Jahrzehnte alte Djukanovic-Regime in Montenegro eine historische Wahlniederlage. Doch der auch für die Westbalkan-Region und für ganz Europa bedeutsame Epochenwechsel ist schwierig.

Wahlen in Montenegro
Nach der Parlamentswahl am 30.08.2020: Jubelnde Anhänger der siegreichen OppositionBild: Reuters/S. Vasiljevic

Der 30. August ist für den kleinen Adria-Staat Montenegro ein Datum von unvergleichlicher Bedeutung. An diesem Tag vor einem Jahr erzwangen die Menschen des Landes erstmals überhaupt in der montenegrinischen Geschichte einen friedlichen Machtwechsel durch eine Parlamentswahl. Zuvor hatte drei Jahrzehnte der Langzeitautokrat Milo Djukanovic mit seiner Demokratischen Partei der Sozialisten (DPS) regiert - die längste Ein-Parteien-Herrschaft im postkommunistischen Europa.

Djukanovic, aktuell noch bis 2023 Staatspräsident, hatte das 640.000-Einwohner-Land seit 1991 in eine Art Privatstaat für sich, seine Familie und einen Kreis enger Freunde und Geschäftspartner verwandelt. Unter seiner Herrschaft blühten Korruption, organisiertes Verbrechen, Geldwäsche, Drogen- und Zigarettenschmuggel. Wahlen wurden immer wieder gefälscht, Kritiker des Regimes bedroht, physisch angegriffen oder sogar ermordet.

Der montenegrinische Staatspräsident Milo Djukanovic nach der Wahlniederlage seiner Partei DPS am 30.08.2020Bild: Reuters/S. Vasiljevic

Doch dann kam es im vergangenen Jahr wegen eines neuen Religionsgesetzes zu monatelangen Massenprotesten - die schließlich zur Wahlwende vom 30. August führten. Auch für die gesamte Westbalkan-Region, in der überwiegend korrupte Parteienklüngel regieren, war das ein Signal von großer Bedeutung.

Gemischte Stimmung

Nach der Wahl fand sich eine Anti-DPS-Koalition mit äußerst gegensätzlichen politischen Kräften zusammen - von serbischen Nationalisten bis hin zu proeuropäischen, sozialliberalen Grünen. Die Erwartungen in sie waren ebenso hoch wie die Skepsis. Nun, ein Jahr nach der historischen Wende, ist die Stimmung im Land gemischt, die politische Lage angespannt, die Bilanz eher dürftig.

Noch immer atmen viele Menschen bei dem Gedanken an das Ende von drei Jahrzehnten DPS-Herrschaft auf. So empfindet es auch Vanja Calovic-Markovic, die bekannteste zivile Aktivistin und Anti-Korruptionskämpferin des Landes, die einst jahrelang Todesdrohungen erhielt und vom Djukanovic-Regime mit Schmutzkampagnen überzogen wurde. Sie sagt der DW: "Ich fühle mich viel freier, aber ich hätte weit mehr positive Dinge erwartet, statt dessen haben wir viele neue Probleme."

Montenegros Premier Zdravko Krivokapic (Mitte), Vize-Premier Dritan Abazovic (l.), Parlamentspräsident Aleksa Becic (r.)Bild: Getty Images/AFP/S. Prelevic

Schweres Erbe

Die Expertenregierung unter dem Premier Zdravko Krivokapic, seit Dezember vergangenen Jahres im Amt, verkündet immer wieder Reformvorhaben und einen EU-Beitritt bis 2025, agiert aber überwiegend planlos und hat die Erwartungen vieler Bürgerinnen und Bürger enttäuscht. Zugleich fehlt es ihr an Unterstützung aus den eigenen Reihen: Der größte Koalitionspartner, die proserbisch-rechtskonservative Parteienallianz Demokratische Front (DF), fordert im Streit um zahlreiche innen- und außenpolitische Fragen seit Monaten den Rücktritt des Premiers und boykottiert die Gesetzesinitiativen der Regierung.

Dabei lastet auf Montenegro ein schweres Erbe: Justiz, Staatsanwaltschaft und Sicherheitsorgane waren jahrzehntelang politisch kontrolliert. Einen Wechsel ihrer Führungskader hat die neue Regierung bisher nur in einigen wenigen Fällen durchsetzen können, einschneidende Justiz- und Verwaltungsreformen lassen auf sich warten.

Todesdrohungen gegen Vize-Premier

Auch im Kampf gegen das in Montenegro sehr mächtige organisierte Verbrechen ist die Bilanz gemischt. Zwar wurden einige Anführer von Drogenclans verhaftet. Die beherrschen den europäischen Kokainmarkt und liefern sich seit Jahren europaweit einen blutigen Krieg, in dem bisher rund 50 Menschen starben, darunter auch zwei in Deutschland. Doch absurderweise ist eines der sichtbarsten Ergebnisse des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität, dass der Vize-Premier Dritan Abazovic von der grün-liberalen Bürgerpartei Vereinigte Reformaktion (URA) seit Monaten rund um die Uhr von einem halben Dutzend Personenschützer bewacht werden muss - er ist zuständig für den Kampf gegen organisierte Kriminalität und erhielt zahlreiche Todesdrohungen, nachdem er Bestechungsangebote der Drogenmafia abgelehnt hatte.

Sicherstellung von geschmuggeltem Kokain am 26.08.2021 nahe der montenegrinischen Hauptstadt PodgoricaBild: Montenegro Police/AP/picture alliance

Mangel an Visionen und Konzepten

Vanja Calovic-Markovic hält ein Djindjic-Szenario in Montenegro für möglich - der ehemalige serbische Reformpremier Zoran Djindjic wurde 2003 von der Mafia ermordet, logistische Hilfe kam aus Geheimdienstkreisen. "Das organisierte Verbrechen hat die staatlichen Strukturen noch immer stark infiltriert und verfügt über sehr viele Informationen", sagt Calovic-Markovic. Sie weiß, wovon sie spricht - die von ihr mitbegründete Nicht-Regierungsorganisation MANS hat Dutzende Fälle von organisierter Kriminalität und staatlicher Korruption aufgedeckt. Derzeit leitet Calovic-Markovic außerdem ehrenamtlich das Expertenteam eines von der Regierung neu geschaffenen Anti-Korruptionsrates.

Hoffnung auf kurzfristige Erfolge beim Kampf gegen Korruption und bei der Säuberung der Sicherheitsorgane hat sie wenig. "Es geht um Strukturen, die dreißig Jahre alt sind", sagt sie. "Viele der neuen Minister haben keine Verwaltungserfahrung, hatten keine Ahnung, wie gewaltig die Probleme sind, und werden von dem alten Personal sabotiert. Insgesamt mangelt es der Regierung leider auch an Visionen, Konzepten, Kohärenz und teilweise an politischem Willen."

Regierungskritischer Protest von Djukanovic- und DPS-Anhängern am 28.12.2020Bild: Risto Bozovic/AP/dpa/picture alliance

Neuer alter Identitätsstreit

Als wäre das nicht genug, drängen zahlreiche politische und religiöse Akteure in Montenegro das Land immer tiefer in einen explosiven Identitätsstreit. Aktuell entzündet sich dieser an der für kommenden Sonntag (5.09.2021) geplanten Amtseinführung des neuen Metropoliten der Serbisch-Orthodoxen Kirche (SPC) in Montenegro, Joanikije. Sie soll in Cetinje stattfinden, der früheren mittelalterlichen Hauptstadt Montenegros, die ein Symbol für die Eigenständigkeit der montenegrinischen Nation ist. Gleichzeitig befindet sich dort auch ein traditionsreiches Kloster der Serbisch-Orthodoxen Kirche, in dem üblicherweise die Metropoliten für Montenegro geweiht werden.

DPS-Parteigänger stufen die Zeremonie als gezielte Provokation gegen den montenegrinischen Staat ein - in dieser Form ein konstruierter Vorwurf. Offiziell leugnet die SPC das Existenzrecht Montenegros als Staat nicht. Allerdings stellt sie eine von Serbien unabhängige montenegrinische Identität in Frage - sie sieht das Land als Teil der "Serbischen Welt", also des serbischen Identitäts- und Kulturraumes.

Djukanovic provoziert Konflikte

Die meisten Montenegriner bekennen sich seit der Unabhängigkeit des Landes 2006 inzwischen ganz selbstverständlich zu ihrem Land und gleichzeitig zur Serbisch-Orthodoxen Kirche - noch unlängst schien der einstige Identitätsstreit deshalb überwunden. Doch nun wird er von politisch interessierter Seite wieder angeheizt: einerseits von der SPC und proserbischen Parteien in Montenegro wie denen aus der Allianz "Demokratische Front", andererseits vom Staatspräsidenten Djukanovic und seiner in die Opposition geratenen Partei DPS. Djukanovic rief zu Protesten gegen die Zeremonie in Cetinje auf, die er für anti-montenegrinisch und gegen die Interessen seines Landes gerichtet hält. Er kündigte an, er werde selbst erscheinen, wenn die Feierlichkeiten nicht an einen anderen Ort verlegt würden. Einer seiner Berater hatte zuvor Einsatzpolizisten zum zivilen Ungehorsam aufgerufen, also dazu, bei gewaltsamen Protesten nicht einzugreifen.

"Es ist das gemeinsame Interesse der Demokratischen Front und der DPS, die Regierung zu destabilisieren und Reformen zu verhindern", sagt Vanja Calovic-Markovic. "Vor allem Milo Djukanovic heizt die Identitätsdebatte an, und zwar aus persönlichen Gründen. Er will sein illegales Vermögen und seine Macht nach so vielen Jahren natürlich nicht so einfach aufgeben. Ich denke, er wird nicht zögern, in der Identitätsfrage auch gewaltsame Konflikte zu provozieren."

Dennoch bleibt für die Bürgeraktivistin nach einem Jahr Wandel unter dem Strich etwas Positives. "Die Menschen haben endlich die Erfahrung gemacht", sagt Vanja Calovic-Markovic, "dass es möglich ist, frei seine Meinung zu sagen und die Macht abzulösen, ohne dass am nächsten Tag der Weltuntergang kommt oder ihnen etwas Dramatisches passiert. Diese Erfahrung wird bleiben und mit ihr muss ab jetzt jede kommende Regierung rechnen."