Montenegro: Minderheiten als Zünglein an der Waage
24. Mai 2006Montenegros politische Zukunft wurde unter anderem durch die Bewohner des Osmanagic-Viertels in Podgorica entschieden. In der alten muslimischen Siedlung befinden sich die beiden Moscheen der Hauptstadt. In einer davon trafen wir kurz vor dem Referendum Rifat Fejzic, das Oberhaupt der islamischen Gemeinde von Montenegro. Das nur dreißig Jahre alte Oberhaupt der montenegrinischen Muslime erschien in einem eleganten Nadelstreifenanzug und las erst einmal seine E-Mails, bevor er die Fragen der Journalisten in bosnischer und türkischer Sprache beantwortete. Fejzic wusste schon da ganz genau, wie wichtig die Stimmen seiner Muslime für den Ausgang des Referendums sind. Allerdings betonte er, dass die islamische Gemeinde Montenegros sich nicht in die Diskussion über die Unabhängigkeit einmische. Jedoch bestand für ihn kein Zweifel darüber, wie die Mehrheit der Muslime abstimmen würde: "Wir, also die Mitglieder der Islamischen Gemeinde wissen, dass die meisten Muslime Montenegros, also die Bosniaken und Albaner, die Unabhängigkeit ihres Landes unterstützen."
Rolle früh erkannt
Solche Einschätzungen waren offensichtlich auch den Befürwortern der Unabhängigkeit sehr wohl bekannt. In ihre Kalkulationen hatten sie die Stimmen der Bosniaken und Albaner fest eingeplant. Laut jüngster Volkszählung stellen diese ethnischen Gruppen nämlich über 17 Prozent der Bevölkerung - und waren damit äußerst wichtig für den Ausgang des Referendums. Der montenegrinische Regierungschef Milo Djukanovic hatte das früh erkannt. Seit Jahren werden die Minderheiten mit üppigen politischen und finanziellen Geschenken überhäuft, sie erhalten maßgeschneiderte Gesetze und werden in die Arbeit der Regierung mit eingebunden. Noch kurz vor dem Referendum wurde ein solches Gesetz verabschiedet, erklärt Rifat Fejzic: "Erst kürzlich wurde im Parlament ein Gesetz beschlossen, das die Rechte und Freiheiten der Minderheiten reguliert. Und das zeigt uns, dass die Muslime in einem unabhängigen Montenegro einen viel besseren Status haben werden als in der Staatsgemeinschaft von Serbien und Montenegro."
Keine Randerscheinung mehr
Neben den praktischen Vorteilen spielten für viele Muslime auch weiterreichende Überlegungen eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für die Unabhängigkeit. In einem gemeinsamen serbisch-montenegrinischen Staat stellten sie nur etwa knapp drei Prozent der Bevölkerung, erklärt das Oberhaupt der Muslime. Damit waren sie im politischen Leben nur eine Randerscheinung.
Mit diesem Argument widerspricht er den wenigen muslimischen Gegnern der Unabhängigkeit, die vor allem im Sandzak, einer mehrheitlich von Bosniaken bewohnten -Region entlang der serbisch-montenegrinischen Grenze zu finden sind. Sie weisen darauf hin, dass durch die Unabhängigkeit Montenegros eine neue Grenzziehung durch den Sandzak erfolgen wird. Für Fejzic, der selber aus dem Sandzak kommt, ist dies das kleinere Übel. Er glaubt, dass viele Muslime mit ihrer Stimme für die Unabhängigkeit Montenegros einem Wiedererstarken großserbischer Ideen endgültig einen Riegel vorschieben wollten.
Minderheiten umgarnt
Eine ähnliche Meinung vertreten die Repräsentanten der montenegrinischen Albaner, die teils Muslime, teils Katholiken sind. Auch sie wurden von Premier Djukanovic heftig umworben: mit Ministerposten, zusätzlichen Grenzübergängen an der albanisch-montenegrinischen Grenze, einem modernen Krankenhaus in der mehrheitlich von Albanern bewohnten Küstenstadt Ulcinj, einer albanischen Fakultät in Podgorica und mit erheblichen Finanzhilfen für ihre Gemeinden. Der Präsident der Demokratischen Union der Albaner und Mitglied des montenegrinischen Parlaments, Ferhat Dinosa, hebt besonders das neue Minderheitengesetz hervor, mit dem fast alle Wünsche der Bosniaken und Albaner erfüllt werden. Die montenegrinische Regierung habe den Parlamentsfraktionen der bosniakischen und albanischen Parteien sogar zahlreiche Sonderrechte eingeräumt, erklärt Ferhat Dinosa: "Diese parlamentarischen Gruppen können als Vertreter der Minderheiten ein Veto einlegen, wenn eine Entscheidung die Grundlagen der nationalen Identität irgendeiner Minderheit berühren sollte."
Es ist also kein Wunder, dass die meisten Albaner und Bosniaken für die Unabhängigkeit gestimmt haben. So haben sich im mehrheitlich albanisch bewohnten Ulcinj 88,5 Prozent der Stimmberechtigten für die Unabhängigkeit ausgesprochen. In Rozaje im Sandzak waren es sogar über 91 Prozent.
Benjamin Pargan, zurzeit Podgorica
DW-RADIO, 24.5.2006, Fokus Ost-Südost