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Politik

Ärzte warnen vor Corona-Epidemie in Moria

31. März 2020

Während EU-Staaten versuchen das Coronavirus zu bremsen, sitzen Zehntausende Geflüchtete in Griechenland in überfüllten Lagern wie Moria fest. Ärzte warnen vor katastrophalen Folgen - auch für die Griechen selbst.

Griechenland Flüchtlingslager Moria | Coronavirus
Bild: Getty Images/AFP/M. Lagoutaris

Auf Abstand zu den Mitmenschen gehen kann Leben retten. Für mehr als 20.000 Menschen im Flüchtlingslager Moria ist Social Distancing zum Schutz vor dem Coronavirus schlichtweg unmöglich.

Das Lager, ursprünglich für 3000 Menschen ausgelegt, wuchs über die letzten vier Jahre kontinuierlich. Hier wohnen Geflüchtete und Migranten auf engstem Raum und in ärmlichsten Verhältnissen. Die meisten kommen aus Afghanistan, aber auch Syrer und Menschen aus Subsahara-Afrika sind unter ihnen. Hunderte teilen sich eine Toilette, mehr als 1000 einen einzigen Wasseranschluss. Von häufigem Händewaschen kann keine Rede sein.

Dementsprechend schlecht steht es um die Hygiene in Moria. Eine Initiative niederländischer Ärzte fordert, dass das Lager und weitere überfüllte Hotspots in Griechenland unverzüglich evakuiert werden. Nur so könne man eine noch größere Katastrophe verhindern. Mehr als 5000 Mediziner aus ganz Europa haben sich dem Aufruf #SOSMoria bereits angeschlossen.

Kaum Abstand, kaum Hygiene: mehr als 20.000 Menschen sitzen im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos festBild: picture-alliance/ANE

Viele Camp-Bewohner mit Vorerkrankungen

Steven van der Vijver und Sanne van der Kooij haben die Aktion gemeinsam ins Leben gerufen. Beide haben erst vor Kurzem im Camp Moria Patienten behandelt. Van der Vijver, der in Amsterdam als Allgemeinmediziner praktiziert, ist schwierige Arbeitsverhältnisse gewohnt. In seiner Karriere war er viel unterwegs, hat unter anderem für Ärzte ohne Grenzen im Kongo gearbeitet.

Die Zustände in Griechenland empfindet er dennoch als extrem. Die Konsequenzen eines Corona-Ausbruchs seien nicht auszudenken: "22.000 Menschen leben auf nur wenigen Quadratkilometern, fast jeder von ihnen wird sich anstecken. Viele sind bereits krank und haben ein geschwächtes Immunsystem. Es werden buchstäblich Tausende Menschen sterben", mahnt Van der Vijver.

Mit ihrer Initiative #SOSMoria" wollen mehr 5000 europäische Ärzte auf den medizinischen Notstand aufmerksam machenBild: SOSMoria

Effektive Maßnahmen, um die Bewohner von Moria zu schützen, gibt es nicht. Um eine Verbreitung des Virus auf der Insel zu verhindern, haben die griechischen Behörden das Lager abgeriegelt, Bewohner dürfen es nachts nicht mehr verlassen. Im Camp selbst wurde bisher kein Corona-Fall bekannt, unter der griechischen Lokalbevölkerung allerdings schon. Viele seiner Patienten seien sehr verunsichert, berichtet Van der Vijver. Er hält es für möglich, dass die Bewohner, sobald sie merken, in welcher Gefahr sie wirklich schweben, das Lager verlassen und sich auf der gesamten Insel verteilen könnten. Und das würde zusätzliche Risiken für die lokale Bevölkerung bergen.

Kaum medizinische Versorgung

Schon lange bevor sich das Coronavirus in Europa ausgebreitet hat, war die Situation in Moria dramatisch, berichtet die Mitinitiatorin des Aufrufs, Sanne van der Kooij. Sie und die wenigen anderen Ärzte im Camp hätten meist nicht die Mittel, um Patienten angemessen zu behandeln. Das sei für alle extrem frustrierend, sagt die Gynäkologin. Oft können sie sich nur den Notfällen widmen. Brandwunden habe sie viele gesehen. Von Feuern, an denen Camp-Bewohner kochen und sich wärmen. Oder Stichverletzungen von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Es gibt in Moria aber auch sehr viele Menschen mit psychischen Problemen.

Steven van de Vijver aus den Niederlanden berichtet von Ängsten und Unsicherheit im Camp während der Corona-KriseBild: SOSMoria

"Man sieht Kinder, die wegen ihres Traumas aufgehört haben zu sprechen, Frauen, die so traumatisiert sind, dass sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern können, junge Männer, die versuchen sich umzubringen", erzählt Van der Kooij.

Als Ärztin habe sie einen Eid geleistet, alles zu tun, um zu helfen und Menschenleben zu retten. Deswegen sehe sie sich nun in der Pflicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch die EU-Staaten haben ein Versprechen abgegeben, nämlich Flüchtlinge mit Anspruch auf Asyl aus den Hotspots zu nehmen und auf die EU-Mitgliedsstaaten aufzuteilen. "Sie haben ihr Versprechen gebrochen", sagt die Niederländerin.

System der Abschreckung an den Außengrenzen

Auch der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt beobachtet die Situation in Moria seit Jahren. Er sagt, die Zustände in den Lagern auf den griechischen Inseln hätten System. Man würde humanitäre Notstände bewusst hinnehmen, wenn so andere Geflüchtete von der Überfahrt aus der Türkei abgehalten werden können. Die weltweite Corona-Pandemie habe bislang nichts daran geändert, so Marquardt. Die Leute, die auf Abschreckung setzten, müssten sich nun klarmachen, dass sie hier wirklich viele Tote in Kauf nehmen würden, wenn sie diese Strategie weiter verfolgten.
Bislang, sagt der Deutsche, mangele es am politischen Willen, die Situation zu ändern. Es müssten sinnvolle Entscheidungen getroffen werden. "Man kann verhindern, dass sich hier Zehntausende Menschen in schneller Zeit mit dem Virus anstecken", sagt er.

Sanne van der Kooij sieht es als ihre ärztliche Pflicht, auf die humanitären Krise aufmerksam zu machenBild: SOSMoria

Evakuierung mit Kreuzfahrtschiffen

Sein Vorschlag ist unter anderem, Kreuzfahrtschiffe zu nutzen, die aufgrund der Pandemie vor Anker liegen. Mit ihnen könne man Menschen transportieren oder erst einmal in Quarantäne stecken. Dafür sei er bereits mit Reedereien im Gespräch. Den Tourismussektor, in dem im Sommer, nicht nur in Griechenland mit großen Problemen zu rechnen ist, könne man damit ebenfalls unterstützen. "Man könnte Leute in angemieteten Hotels unterbringen", sagt er. "In Deutschland sind allein 25.000 Erstaufnahmeplätze, die man nutzen könnte, um zum Beispiel Geflüchtete oder Obdachlose jetzt schnell unterzubringen. Da gibt es einen bunten Strauß an Möglichkeiten, man muss sie nur nutzen."

Dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert: Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.Bild: Dimitris Tosidis/EPA-EFE

Viele sehen Moria als Symbol einer gescheiterten europäischen Asylpolitik. Das Camp liegt am Fuß eines Hügels. Hier reihen sich ärmliche Holzverschläge und einfachste Zelte dicht aneinander, bis weit hinein in die umliegenden Olivenhaine. Es gibt vergleichbare Camps auf der ganzen Welt. In Myanmar, in der syrischen Provinz Idlib oder Gaza harren Menschen ebenfalls schutzlos, in bitterer Armut aus und warten auf ihr Schicksal. Für Steven van der Vijver gibt es aber einen wichtigen Unterschied zum Moria Camp: "Das ist ein europäisches Land, und wir haben diese Situation hier geschaffen."