Moritz Gerstel - Bauhaus-Genie aus der Ukraine
6. August 2025
Durch Russlands Angriffskrieg wurden in der Ukraine bislang rund 300.000 Wohnhäuser zerstört. Diese Zahl wurde im Juli auf der Ukraine Recovery Conference in Rom bekannt. Heute, noch während die Kämpfe andauern, sind unter den Ukrainern unterschiedliche Meinungen zu hören, was einen künftigen Wiederaufbau angeht. Soll alles wieder wie früher aufgebaut oder ganz neu gebaut werden? Europa stand in seiner Geschichte schon mehrmals vor dieser Frage. In diesem Zusammenhang sind die architektonischen Lösungen von Moritz Gerstel heute in vielfacher Hinsicht interessant.
Zerstörung und Aufbau
Gerstel wurde 1886 geboren. Als sein Geburtsort wird oft Lwiw angegeben, doch genau genommen ist es das 20 Kilometer entfernte Städtchen Nowyj Jarytschiw im Westen der Ukraine, die damals Teil Österreich-Ungarns war.
Vor 110 Jahren erlitt Gerstels Heimatort während einer zehnmonatigen russischen Besetzung im Ersten Weltkrieg erhebliche Zerstörungen. Zur gleichen Zeit studierte Gerstel am Polytechnischen Institut in Lwiw, wurde in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen, kämpfte dann gegen das Russische Reich und wurde im Krieg verwundet.
Der Wiederaufbau von Nowyj Jarytschiw gestaltete sich schwierig, die Menschen mussten in Kellern ohne Beheizung leben, Krankheiten breiteten sich aus und sozialen Wohnraum gab es keinen. All dies, so glauben Forscher, brachte Moritz Gerstel schließlich dazu, etwas Neues erschaffen und bauen zu wollen.
Wohnungsbau für Menschen
Gerstel absolvierte die Technische Universität Wien und übernahm in der Stadt eine dringende Aufgabe: die Mitgestaltung von Sozialwohnungen für Kriegsveteranen im Stadtbezirk Floridsdorf sowie in den Städten St. Pölten und Amstetten. Er war davon überzeugt, dass Wohnraum soziale Probleme lösen und nicht neue schaffen sollte, wie ein Zitat aus einem deutschen Essay von ihm nahelegt: "Jeder Mensch, der nicht mit Familie zusammen wohnt, jung oder alt, sollte eine unabhängige und beständige Behausung haben, ein Heim, in dem er sich ungestört und gemütlich fühlt, wo er sich behaglich ausspannen und sich erholen kann, damit er in der Lage ist, ein normales nützliches Leben zu führen."
Der junge Architekt war fasziniert von der Philosophie des Neuen Bauens und der Bauhaus-Schule, die in den 1920er-Jahren in Deutschland und Österreich zunehmend populär wurde. Doch bereits in den 1930er-Jahren, mit der Machtübernahme der Nazis, wurden das Bauhaus und seine Philosophie und Gestaltung für "entartet" erklärt. 1933 wurde die Schule aufgelöst.
Gerstel, der zu dieser Zeit im rumänischen Bukarest arbeitete, erkannte, dass er nirgendwo in Europa mehr etwas schaffen konnte. Er beschloss, wie Dutzende andere Architekten auszuwandern - an einen Ort, wo moderne Ideen damals sehr gefragt waren: nach Haifa, einer Stadt am östlichen Mittelmeer auf damaligem britischem Territorium.
Markthalle als Raum des Lichts
Als er auswanderte, war Gerstel fast 50 Jahre alt. Seinen größten Erfolg hatte er im Jahr 1937: Unter Hunderten von Bewerbern gewann er mit seinem Talpiot-Projekt den Wettbewerb für den Bau der städtischen Markthalle in Haifa. Heute gilt der Bau als eines der genialsten Beispiele des internationalen Architekturstils weltweit. Die deutsche Architektin und Fotografin Stephanie Kloss sagt über die Form des Bauwerks: "Wie ein Schiff scheint das Gebäude in einen unbekannten Hafen einzulaufen."
Im Dachgeschoss der Markthalle befand sich ein Restaurant, und der Innenraum mit seiner durchdachten natürlichen Belüftung und Beleuchtung war ein Wunderwerk der Ingenieurskunst - mit vollständiger Elektrifizierung, Telefon, Gefrierschränken und Lastenaufzügen, was damals eine Seltenheit war.
Die Markthalle, ein Echo von Gerstels Kriegstrauma und der russischen Besatzung, ist wohl zu seinem wichtigsten Lebenswerk geworden. "Dieser tief gelegene Ort hat seine eigene Heiligkeit, dort ist Leben. Das Wichtigste ist, in den einfachen 'kleinen Menschen' zu investieren, denn genau das macht ein moderner Architekt. Ein Zufluchtsort für alle. Das war sein Traum", bemerkt Karnit Mandel, Dokumentarfilmerin und Forscherin von Gerstels Erbe.
Sie findet, dass Gerstel sein Ziel erreicht hat: in erster Linie für den einfachen Menschen zu schaffen und zu bauen. Und das sogar besser als zuvor, trotz der im Zweiten Weltkrieg überall aufkommenden Knappheit an Baumaterialien. Es war ein symbolischer Sieg für die Werte des Bauhauses im weiteren Sinne gegen den Nazi-Totalitarismus in Europa und auch ein persönlicher Sieg für den Architekten.
Gerstel hat mehrere ikonische Gebäude geschaffen, darunter das Talpiot Hotel gleich neben der Markthalle in Haifa. Der Architekt experimentierte mit lokalem Stein und Materialien und kombinierte europäische und orientalische Motive sowie Art déco. Doch Gerstels Erfolgssträhne währte nicht lange und endete mit dem britischen Mandat 1948. Viele seiner Freunde und Klienten aus den arabischen und britischen Eliten verließen Haifa. Gerstel vereinsamte und starb im Jahr 1961.
Sein Wirken führte sein Sohn Leopold Gerstel fort, der später zu einem der einflussreichsten Architekten Österreichs werden sollte und dessen 100. Geburtstag (er starb 2010) dort in diesem Jahr begangen wird.
Verblasstes Erbe und vergessener Name
Obwohl Moritz Gerstel in Fachbüchern als "ukrainischer und israelischer Architekt" bezeichnet wird, ist sein Name in der Heimat des Künstlers und auch dort, wo er Architektur prägte, heute fast vergessen. Sogar die futuristische Talpiot-Markthalle ist im Laufe der Zeit verfallen und wartet seit langem auf eine Restaurierung.
Auch in Deutschland selbst, der Geburtsstätte des Bauhauses, sind einzigartige Beispiele dieses Erbes unwiederbringlich verloren gegangen. So wurden einige Gebäude in der bekannten Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die 2016 in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen wurde, im Zweiten Weltkrieg zerstört. Zwei weitere Häuser wurden nach dem Krieg in den 1950er-Jahren abgerissen.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich ist das Interesse junger Architekten und Künstler am Bauhaus-Stil in den letzten Jahren gewachsen. Was begeistert sie an ihm? Laut Stephanie Kloss ist es nicht nur die einzigartige Ästhetik der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um den Unterschied zu verstehen, solle man sich doch einfach die "Architektur von heute" anschauen, so die Künstlerin.
Doch neben der Ästhetik der Architektur geht es auch um Werte und darum, für die Zukunft zu bauen. Durch die Erforschung dieses Erbes können junge Architekten besser verstehen, wovon beispielsweise Joachim Schürmann, der Erbauer des Gebäudes der Deutschen Welle in Bonn, oder Hans Scharoun, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Wiederaufbau deutscher Städte beauftragt war, inspiriert waren.
Stephanie Kloss glaubt, dass das zunehmende Interesse am Bauhaus auch mit der Vision dieser Schule zusammenhängt. "Sie hat versucht, etwas Neues, etwas Soziales zu machen", betont sie und fügt hinzu, dies habe man mit der Schönheit der Form verbunden. "Das hat man heute nicht mehr so", stellt Kloss fest, die bereits Ausstellungen ihrer Fotografien in Düsseldorf und Mainz hatte.
Karnit Mandel begann sich für Moritz Gerstel zu interessieren, nachdem sie in einem der von ihm entworfenen Häuser in der Nähe der Talpiot-Markthalle gewohnt hatte. Seitdem hat sie viele Archive in Wien und Bukarest besucht und will auch noch ukrainische Archive erkunden. Mandel versucht herauszufinden, an welchen Projekten in verschiedenen Ländern Gerste beteiligt war. Fündig wurde sie bislang in Wien, Wiener Neustadt und Bukarest, wie aus ihrem Blog hervorgeht. Mandel hat sich vorgenommen, die Erinnerung an Moritz Gerstel wiederzubeleben. Im nächsten Jahr wird sein 140. Geburtstag gefeiert.
Gerstel bot den einfachen Menschen universelle, erschwingliche und ästhetische Lösungen an, die sich nach Ansicht von Architekten auch heute gut adaptieren lassen. Sein Leben war geprägt von zwei Weltkriegen und Unruhen, er durchlebte persönliche Krisen und hatte zeitweise keine eigene Wohnung. "Er hat jedoch nie aufgegeben. Aufgeben war für ihn keine Option. Er wollte schaffen und bauen", sagt Karnit Mandel und betont, dass ein solches Motto auch für unsere Zeit sehr relevant sei.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk