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Politik

Moskau vor Höhepunkt der Protestwelle

Roman Goncharenko
9. August 2019

Russlands Hauptstadt steht vor einem vorläufigen Höhepunkt der Proteste für faire Kommunalwahlen. Das harte Vorgehen der Justiz gegen Teilnehmer früherer Demos hat die Bewegung eher gestärkt.

Polizei zeigte Härte bei den Protesten in Moskau am 27. Juli
Bild: Reuters/S. Zhumatov

Juri Dud ist jung, hip und sehr erfolgreich. In sozialen Netzwerken, die die staatlichen Fernsehsender bei urbanen jungen Russen längst überholt haben, ist der 32-jährige Moskauer Journalist die Nummer eins. Mit kontroversen Interviews mit Prominenten aus Politik, Showgeschäft und Sport erreicht er auf seinem YouTube-Kanal ein Millionenpublikum. Am Donnerstag tat Juri Dud etwas, was er noch nie getan hatte: Er hat zu einer politischen Demonstration am Samstag (10. August) in Moskau aufgerufen. Anders als in den vergangenen zwei Wochen ist die Kundgebung am Sacharow-Prospekt genehmigt - bis zu einer Größe von 100.000 Teilnehmern. Es dürfte in jedem Fall die größte solcher Aktionen in der russischen Hauptstadt in diesem Jahr werden.

Prominente rufen die Jugend zu den Protesten auf

Auslöser für die seit Mitte Juli andauernden Proteste ist die für den 8. September geplante Wahl zum Moskauer Stadtparlament, zu der mehrere Dutzend unabhängige Kandidaten - darunter prominente Oppositionelle - nicht zugelassen wurden. Die Begründung: fehlerhafte Unterschriften der Bürger, eine notwendige Voraussetzung für Zulassung. Die Betroffenen bestreiten das, doch die Zentrale Wahlkommission hat ihre Beschwerden abgelehnt.

Massive Polizeipräsenz während des nicht genehmigten Protests in Moskau am 3. AugustBild: picture-alliance/dpa/V. Sharifulin

Die passive Haltung der Jugend in Russland in den letzten Jahren habe dazu geführt, dass "jegliche politische Konkurrenz praktisch zerstört ist", schrieb der Journalist Dud auf Facebook. Das harte Vorgehen der Polizei und Justiz gegen Teilnehmer der Demonstrationen am 27. Juli und 3. August in Moskau sei ein Weckruf. Es wurden insgesamt mehr als 2000 Menschen festgehalten, mehr als 500 mit Strafen belegt, davon mehr als 100 mit kurzzeitigen Haftstrafen. Die meisten Oppositionspolitiker sind derzeit für Wochen eingesperrt und können nicht an dem Protest am Samstag teilnehmen.

Unterstützung bekam Dud am Freitag vom bekannten russischen Musiker Oxxxymiron, der im realen Leben Miron Fjodorow heißt und früher mit seiner Familie in Deutschland lebte. In einer Videobotschaft an seine mehr als zwei Millionen Anhänger bei Instagram sagte der 34-jährige Rapper, er werde selbst zur Demo in Moskau gehen. "Lasst uns zusammen ein Ende des absurden und repressiven Strafverfahrens wegen sogenannter Massenunruhen anstreben."

Strafverfahren wegen Massenunruhen

Gemeint ist ein Strafverfahren nach Artikel 212 des russischen Strafkodex - darin geht es um Massenunruhen. Bisher wird insgesamt gegen rund einem Dutzend Menschen nach diesem Artikel ermittelt, doch ihre Zahl dürfte wachsen. Für die Teilnahme an Massenunruhen sind in Russland Haftstrafen von bis zu acht Jahren vorgesehen.

Besonders ein Fall sorgte im Zusammenhang mit den Protesten für Aufsehen. Die Staatsanwaltschaft will einem jungen Ehepaar ihren einjährigen Sohn wegnehmen, weil sie das Kind während einer Demo kurz einem Verwandten übergeben und dadurch aus der Sicht der Ermittler gefährdet hätten. Gegen diesen Verwandten wird wegen Massenunruhen ermittelt. Er beteuert in einem selbst gedrehten Video seine Unschuld, kritisiert aber den Oppositionspolitiker und Kreml-Kritiker Alexej Nawalny und seine Mistreiter. Sie hätten die Demonstranten vor strafrechtlichen Konsequenzen nicht ausreichend gewarnt, so der junge Mann.

Während der Moskauer Bürgermeister, Sergej Sobjanin, von "Massenunruhen, die im Voraus geplant und gut vorbereitet" gewesen seien spricht, warnt die renommierte Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta" vor "politischem Terror". Am 27. Juli habe es weder Sachbeschädigung noch Brandstiftung gegeben - und auch keine Gewalt. "Wir glauben, dass das Verfahren zu den Massenunruhen dafür genutzt wird, um das Volk Russlands einzuschüchtern und die Ausübung unseres Wahlrechts faktisch zu verbieten", heißt es in einem Appell, für den die "Nowaja Gaseta" auf der Webseite Change.org Unterschriften sammelt. Seit Sonntag haben mehr als 100.000 Menschen den Aufruf unterzeichnet.

Justiz geht gegen Nawalny-Stiftung vor

Wenige Tage vor der Demo am Samstag ging die russische Justiz massiv gegen die "Stiftung gegen Korruption" des Oppositionspolitikers Nawalny vor. Es soll um Verdacht von Geldwäsche in Millionenhöhe gehen. Es gab Durchsuchungen, Vernehmungen und Kontosperrungen. Nawalny selbst verbüßt gerade eine Haftstrafe wegen Aufrufen zu früheren Protesten. In seinem Blog hat der 43-Jährige das Vorgehen der Justiz als Einschüchterung kritisiert. Einige Vertreter seiner Stiftung, darunter die Juristin Ljubow Sobol und der Leiter Iwan Schdanow, wurden zur Wahl zum Moskauer Stadtparlament nicht zugelassen.

Juristin der Nawalny-Stiftung Ljubow Sobol wurde zur Wahl zum Moskauer Stadtparlament nicht zugelassenBild: Reuters/T. Makeyeva

Kritiker werfen den Veranstaltern der Proteste in sozialen Netzwerken vor, Vertreter der reichen oberen Mittelschicht zu sein und nicht das ganze Russland zu repräsentieren. "Freie Wahlen sind weniger wichtig als Frieden und Menschenleben", argumentierte ein Kreml-freundlicher Journalist auf Facebook in einem Versuch, junge Russen vor der Teilnahme an der Demo abzubringen. 

Am Donnerstag präsentierte das renommierte Moskauer Meinungsforschungsinstitut "Lewada-Zentrum" seine neueste Umfrage zu den Protesten in Moskau. Fast jeder zehnte zeigt sich bereit, an Protesten teilzunehmen. Mit 37 Prozent liegt die Zahl der Protest-Befürworter um zehn Prozent höher die der Protest-Gegner.