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PolitikEuropa

Moskaus Agenten gegen Kreml-Kritiker

7. Oktober 2020

Der Prozess um den Tiergartenmord in Berlin hat begonnen. Es ist nicht das einzige Verbrechen, hinter dem Russlands Regierung als Auftraggeber vermutet wird. Der Verdacht: Moskau versucht den Westen zu destabilisieren.

Deutschland Prozess um «Tiergartenmord» beginnt am 7. Oktober
Plakate einer Protestaktion für den ermordeten Zelimkhan Khangoshvili und andere beim ProzessauftaktBild: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Im Prozess um den sogenannten Tiergartenmord soll es nicht nur um die Täterschaft gehen. Generalbundesanwalt Ronald Georg will auch beweisen, dass es sich um Staatsterrorismus handelt: Seiner Ansicht nach hat die russische Regierung den Mord an Zelimkhan Khangoshvili, einem Georgier tschetschenischer Herkunft, im "Kleinen Tiergarten" im Berliner Stadtteil Moabit beauftragt.

Der Tiergartenmord ist bei weitem nicht der einzige Fall von mutmaßlichem Staatsterrorismus aus Moskau. Bisher ist es westlichen Behörden allerdings selten gelungen, die Beteiligung des Kreml an Attentaten im Ausland nachzuweisen.

Alexander Litwinenko wurde 2006 mit Polonium-210 vergiftetBild: picture-alliance/dpa

Spätestens seit 2006 ist für westliche Geheimdienste allerdings klar, dass Russlands Agenten auch unter Präsident Wladimir Putin nicht an der eigenen Landesgrenze Halt machen: Da starb der ehemalige Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Alexander Litwinenko im Londoner Exil an den Folgen einer Vergiftung mit hochradioaktivem Polonium-210. Es soll ihm von zwei russischen Spionen verabreicht worden sein, deren Auslieferung das Vereinigte Königreich seither fordert.

Neben Auftragsmord wirft der Westen Moskau auch Cyber-Angriffe und Wahlmanipulation vor - die Liste von Vorwürfen gegen russische Geheimdienste allein in den vergangenen fünfeinhalb Jahren ist lang:

2015: Hackerangriff auf den Bundestag

Einen "digitalen Raubzug" nannten Medien das, was Hacker im Frühjahr 2015 in den Computern von Bundestagsabgeordneten verübten. Über Wochen erbeuteten sie Tausende E-Mails und Dokumente von den Rechnern diverser Abgeordneter - auch aus dem Bundestagsbüro von Angela Merkel. Die angewendete Software soll typischerweise von Hackern des russischen Militärgeheimdienstes GRU eingesetzt werden, um Passwörter auszulesen und Daten zu stehlen. Den Täter will das BKA ermittelt haben. Der Bundesnachrichtendienst (BND) hält es für "nahezu sicher", dass der Auftrag für den Datenraub vom GRU kam.

2016: Wahlkampf-Manipulation in den USA

Während des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA 2016 sollen russische Agenten zahlreiche Cyber-Angriffe unternommen haben, um den Ausgang der Wahl zu beeinflussen. Zum einen soll die Troll-Armee des russischen Unternehmens Internet Research Agency (IRA) in Sankt Petersburg Wähler über Twitter, Facebook, Youtube und Instagram beeinflusst haben, indem sie ihnen - teils falsche - Nachricht zuspielte. Verschiedene Analysen von internationalen Forschern kommen zu dem Ergebnis, dass konservative Wähler vor allem gegen die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton aufgestachelt worden seien. Deren potenzielle Wähler hingegen sollten durch verwirrende Informationen vor allem davon abgeschreckt werden, zu wählen. Der Inhaber der IRA soll ein Unterstützer Putins sein.

Russische Hacker nehmen Einfluss auf die Wahlen in den USA 2016

Unmittelbare Verbindungen in den Kreml soll es beim Hack des E-Mail-Accounts von Hillary Clinton selbst gegeben haben: Die Spuren führen direkt zum russischen Geheimdienst. 2018 erhob Sonderermittler Robert Mueller in dem Fall Klage gegen zwölf GRU-Mitarbeiter, die das E-Mail-Fach geknackt und ausspioniert haben sollen. Wenige Tage später bestätigte auch Donald Trump, dass es wohl eine Einmischung aus Moskau gegeben habe. Bis dahin war der US-Präsident der Version seines russischen Amtskollegen gefolgt, der die Vorwürfe bis heute abstreitet.

Ein fast 1000-seitiger Bericht des US-Senats listet diese und weitere Manipulationsvorwürfe auf.

2016: Putsch-Versuch in Montenegro

Im Mai 2019 befand das Hohe Gericht von Montenegro 14 Männer für schuldig, im Wahljahr 2016 einen Staatsstreich geplant zu haben, um den Beitritt des Landes zur NATO zu verhindern. Zwei von ihnen waren russische Staatsbürger mit gefälschten Pässen, sie sollen GRU-Agenten gewesen sein. Die Verurteilten bestritten vor Gericht alle Vorwürfe, Moskau dementierte die Einmischung vehement.

2018: Chemischer Kampfstoff - Teil 1

Im März 2018 wurden der russische Doppelspion Sergej Skripal und seine Tochter Julia bewusstlos auf einer Parkbank in der englischen Kleinstadt Salisbury aufgefunden. Britische Ermittler erklärten, die beiden seien mit dem Nervengift Nowitschok in Kontakt gekommen. Der chemische Kampfstoff wurde seit den 1970er Jahren in der Sowjetunion entwickelt. Die britische Regierung warf Russland daraufhin vor, für den Anschlag verantwortlich zu sein.

Polizeiuntersuchung nach Giftanschlag auf Sergej Skripal und Tochter Julia in SalisburyBild: picture-alliance/Solo Syndication/ Daily Mail/M. Richards

Internationale Ermittler der Organisation für das Verbot chemischer Waffen OPCW bestätigten die Analyse der Briten. Die mutmaßlichen Täter sind GRU-Mitarbeiter. Auch in diesem Fall streitet Moskau alles ab.

2020: Chemischer Kampfstoff - Teil 2

Am 20. August 2020 brach der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny auf einem Flug von Sibirien nach Moskau zusammen. Nach einer Notbehandlung in Omsk wurde er in das Berliner Krankenhaus Charité verlegt, wo der Verdacht bestätigt wurde, Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden.

Nach der ersten Sichtung von Nawalnys Hotelzimmer in Tomsk durch die russische Polizei teilten russische Behörden mit, es bestehe kein Bedarf für weitere Ermittlungen, da es keine Hinweise auf ein Verbrechen gebe. Nawalnys Team dagegen berichtet von Nowitschok-Spuren auf einer leeren Wasserflasche in dem Hotelzimmer. Der Kreml sieht darin keinen Beweis für eine Vergiftung.

Spezialeinheiten zur Destabilisierung des Westens

Mittlerweile wird für die in Europa verübten Taten fast immer dieselbe Geheimdienst-Gruppe aus 15 bis 20 Agenten verantwortlich gemacht: Die Einheit 29155 war nach Recherchen des Investigativ-Netzwerks Bellingcat auch an Destabilisierungsversuchen in der Republik Moldau und auf der Krim im Jahr 2014 beteiligt, an einem Hackerangriff auf die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA in den Jahren 2016 und 2017. Außerdem soll die Gruppe Einfluss auf das Brexit-Votum und das illegale Unabhängigkeits-Referendum in Katalonien 2017 genommen haben.

Erst 2019 wurde bekannt, dass ein Teil der Gruppe jahrelang von den französischen Alpen aus operierte - darunter wohl auch die Täter des Nowitschok-Angriffs auf Sergej Skripal. Ob die Einheit 29155 auch hinter dem Tiergartenmord steckt, ist bisher offen.

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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