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Politik

Moskaus Feind ist der Westen

Peter Janku
19. Mai 2022

Die Vorwürfe des russischen Präsidenten Putin gegen den Westen verstärken das grundsätzliche Narrativ des Kreml, Russland sei Opfer einer großen Verschwörung, meint der rumänische Historiker Armand Gosu im DW-Interview.

Bilderchronik des Krieges in der Ukraine 2.5.2022
"Stop Putin - Stop War": Kundgebung auf dem Marktplatz in Leipzig (1.05.2022)Bild: Jan Woitas/dpa/picture alliance

DW: Der russische Präsident Wladimir Putin hat die traditionelle Militärparade in Moskau am Tag des Sieges, dem 9. Mai, genutzt, um dem Westen eine geplante Invasion "in Russland", also auf der Krim und anderswo, vorzuwerfen. Moskaus militärische "Sonderoperation" sei daher unausweichlich, um die angebliche Aggression im Keim zu ersticken. Was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine?

Armand Gosu: Ich denke, wir sind Zeugen einer Neukalibrierung von Putins Diskurs geworden. Bisher oft gebrauchte Begriffe wie "Entnazifizierung" oder "Banden von Drogenabhängigen" scheinen daraus zu verschwinden. Die Betonung liegt jetzt auf der Unausweichlichkeit des Krieges. Das heißt, dass es keine Alternative zum Krieg gegeben und Putin nur das getan habe, wozu er verpflichten gewesen sei. Und das sei grundsätzlich richtig gewesen.

Diese Haltung sollte uns nicht überraschen, sie ist spezifisch für kommunistische Bürokratien sowjetischen Typs und für die Militärkreise, aus denen Putin kommt. Es ist eine weit verbreitete Art von bürokratischer Kultur. Ich würde nicht darauf bestehen, dieses Phänomen näher zu erklären, denn in anderen Ländern - in Rumänien, zum Beispiel - ist die vorherrschende Kultur in der Regierung, den Ministerien und den Geheimdiensten, wenn nicht dieselbe, so zumindest eine sehr ähnliche. Der Chef hat immer Recht, es gibt keine Alternative zu dem, was ein Präsident oder ein Minister sagt. Die staatlichen Machtinstitutionen können nichts falsch machen. In solchen Kulturen gibt es keine unabhängige, echte, authentische Expertise.

Der rumänische Historiker Armand GosuBild: privat

Da die militarisierte Bürokratie kulturell arm und intellektuell bescheiden ist, aber dafür oft mit Doktortiteln auftrumpft, akzeptiert sie keine Bereiche, die nicht von den Geheimdiensten in Außenpolitik, Verteidigung und Sicherheit kontrolliert werden. Die Wurzeln dieser Kultur sind etwas älter als das bolschewistische Regime. Sie führen ins Russische Reich - einen Staat, der von einer militarisierten Bürokratie aufgebaut und nach Rangordnungen organisiert war. Die wichtigste Institution war die des Vorgesetzten, des Natschalnik. Es ist eine spezifische Kultur ländlicher Gesellschaften, die sich nicht modernisieren konnten oder die einfach die westliche Kultur ablehnten.

In einem früheren Interview haben Sie gesagt, dass dieser Konflikt auf dem Schlachtfeld gelöst wird, nicht am Verhandlungstisch. Warum nicht diplomatisch?

Weil Russland immer noch davon überzeugt ist, dass es diesen Krieg gewinnen kann. Und es setzt alles daran, um zu gewinnen. Das heißt, die russische Armee schafft kleinere und größere "Zangen", mit denen sie die ukrainische Armee zu packen versucht. Dies wird in den Militärakademien in Moskau gelehrt, nach den Mustern der sowjetischen Militärtaktik im Zweiten Weltkrieg. Das hat Russland im August 2014 in der Schlacht um Ilowajsk getan. Es folgte die erste Minsker Vereinbarung (für einen Waffenstillstand und die friedliche Lösung des Konflikts - Anm. d. Red.). Dann wiederholte Russland sein Vorgehen im Februar 2015 in Debalzewo - und es kam Minsk 2 (ein ergänzendes Maßnahmepaket zur Umsetzung der ersten Vereinbarung - Anm. d. Red.).

Nach dem Scheitern des großen Plans, die gesamte Ukraine durch einen Blitzkrieg in die Knie zu zwingen, aber auch des Plans, die beiden wichtigsten Städte Kiew und Charkiw einzukreisen, konzentriert sich die russische Armee auf den Donbass. Dort versucht sie, mit diesen "Zangen" große ukrainische Einheiten zu umzingeln und damit den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem Waffenstillstand und politischen Zugeständnissen zu zwingen. Alles, was Putin jetzt erreichen könnte, ist ein Waffenstillstand, kein Minsk 3, sondern ein einfacher Waffenstillstand. Dieser würde es ihm ermöglichen, die besetzten Gebiete zu behalten, und ihm die nötige Ruhepause gewähren, um seine militärischen Kapazitäten zu erneuern und die Offensive gegen die Ukraine wieder aufzunehmen.

Zerstörter russischer Panzer in der Region KiewBild: Genya Savilov/AFP/Getty Images

Warum ist der russische Blitzkrieg gescheitert?

Putins Problem ist, dass die Ukrainer nach acht Jahren Kampf im Donbass eine gut vorbereitete, moderne Armee und eine schwer zu erobernde Verteidigungsinfrastruktur in Donezk und Luhansk aufgebaut haben. Nach wochenlanger verzweifelter Offensive sind die Russen kaum ein paar Meilen vorangekommen. Um die Streitkräfte zu ergänzen, wurde in Russland eine geheime Mobilisierungskampagne gestartet - oder besser gesagt, eine diskrete, um die Bevölkerung nicht zu verängstigen. Die Soldaten werden aber bald feststellen, dass sie nicht genug Waffen und Munition haben. Und die Rüstungsindustrie hat wegen der Sanktionen keine Möglichkeit, elektronische Bauteile zu bekommen.

Fast schon verzweifelt wollte Putin einen Sieg, eine kleine "Zange", um ein paar Hundert, vielleicht Tausende ukrainischer Soldaten gefangen zu nehmen, in der Hoffnung, dass er so Waffenstillstandsverhandlungen erzwingen kann. Die Ukrainer wiederum befinden sich in einem Wettlauf mit der Zeit und hoffen, schneller amerikanische Waffen zu erhalten, um sie bei Operationen im Donbass einzusetzen, wo der Krieg mit beispielloser Intensität geführt wird. Und wo der Verlust an Menschenleben und Kampftechnik enorm ist.

Wenn der Krieg, wie Sie sagen, auf dem Schlachtfeld entschieden wird, wie muss die Ukraine dann einen militärischen Sieg definieren? Reicht es, die von Russland besetzten und annektierten Gebiete zurückzuerobern?

Sowohl der ukrainische Präsident als auch sein Außenminister haben wiederholt erklärt, dass die Befreiung des Territoriums von den russischen Besatzern das Ziel sei, d.h. die Rückkehr zu den legalen Grenzen des Landes vor der Annexion der Krim und vor der Ausrufung der separatistischen Volksrepubliken in der Ukraine.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält seine tägliche Ansprache an sein Volk (17.05.2022)Bild: Ukraine Presidency/ZUMAPRESS/picture alliance

Russland wiederum will Cherson, Melitopol, Mariupol und möglichst viel vom Donbass annektieren, also die von der russischen Armee noch kontrollierten Gebiete. Sobald Russland diese Gebiete annektiert und die Ukraine die Gegenoffensive zu deren Befreiung intensiviert, besteht die Gefahr, dass Putin dies als einen Angriff auf Russland ansieht, eine allgemeine Mobilisierung anordnet und sich auf den Artikel in der russischen Sicherheitsstrategie beruft, der besagt, dass angesichts existenzieller Bedrohungen mit Atomwaffen zurückgeschlagen wird.

Was sagen Putins Anschuldigungen über die Beziehungen Russlands zum Westen aus? Und was sollte der Westen noch tun, um auf die Feindseligkeit Moskaus zu reagieren?

Die Vorwürfe gegen den Westen verstärken nur das grundlegende Narrativ des Kreml, dass der Westen am Ausbruch des Krieges schuld sei, dass Putin keine andere Wahl hatte, dass Russland Opfer einer großen amerikanischen Verschwörung sei. Oder genauer gesagt, einer Verschwörung der Angelsachsen - das ist der neue Modebegriff in Moskau. Sie fragen, was der Westen dagegen tun kann. Der Westen muss der Ukraine helfen, sich zu verteidigen. Das heißt Finanzhilfen, Angriffswaffen, moralische Unterstützung durch die öffentliche Meinung, politische Unterstützung. Der Westen ist sich der russischen Gefahr nicht bewusst. Das Jahr 1814, als russische Soldaten Paris besetzten, ist weit entfernt. Westeuropa hat ein kurzes Gedächtnis, ist zynisch und merkantil.

Mittel- und Osteuropa hatten ein großes historisches Glück mit der angelsächsischen Welt, mit den USA, Kanada und dem Vereinigten Königreich. Eine Schlüsselrolle nimmt Polen ein, der Aufbewahrungsort des historischen Gedächtnisses Mittel- und Osteuropas - jahrhundertelang die wichtigste politisch-militärische Macht in der Region. Polen wird der Anführer der slawischen Nationen sein, die sich in einigen Jahrzehnten in die euroatlantische Welt integriert haben werden. Es wird einen slawischen Block geben, der aus der Ukraine, Weißrussland - Putin wird Lukaschenko mit in den Abgrund ziehen -, der Tschechischen Republik, der Slowakei und dem Baltikum besteht.

Der russische Präsident Wladimir Putin am 9. Mai 2022 in MoskauBild: Mikhail Metzel/Pool/Sputnik/REUTERS

Mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens wird die Ostflanke der Allianz nach Norden hin, zum Baltikum, entscheidend gestärkt und damit der beim NATO-Gipfel in Warschau im Juni 2016 begonnene Prozess der Stärkung des Bündnisses fortgesetzt. Dieser slawische Block mit seinen 100 Millionen Einwohnern wird das Kräfteverhältnis im westlichen Lager verändern, der Einfluss Frankreichs und Deutschlands wird schrumpfen, sie werden sicherheitstechnisch immer bedeutungsloser. Schon jetzt sind Polen und die Ukraine die wichtigsten Verbündeten und Partner der Amerikaner in Europa - und werden es noch viele Jahre bleiben. Dies gilt auch dann, wenn die Ukraine kein NATO-Mitglied wird. Das Vertrauen in die Fähigkeit der NATO, auf russische Bedrohungen zu reagieren, wird sowieso mit Mitgliedern wie Viktor Orbans Ungarn immer weiter sinken.

Was bedeutet das für Länder wie die Republik Moldau und Rumänien, einem NATO-Staat an der südöstlichen Flanke der Allianz?

Ganz Osteuropa wird durch diesen Krieg umgestaltet. Also wird sich auch das Schicksal der Republik Moldau ändern. Sie wird im Kielwasser der Ukraine weiterhin in Richtung EU gehen, aber keine wirkliche Chance haben, solange die Transnistrien-Frage nicht gelöst ist. Mit etwas Glück kann ein günstiger Kontext für die Lösung dieser Frage geschaffen werden. Es ist wichtig, dass die moldauische pro-westlich orientierte Präsidentin Maia Sandu diesen Moment nicht verpasst. 

Rumänien wird ein Tandem mit Bulgarien versuchen, was alles andere als sicher ist, da Sofia jede Assoziation mit Bukarest vermeidet - sowohl in Bezug auf Schengen als auch auf den Beitritt zur Eurozone. Rumänien wird immer weiter von den wichtigen Schachzügen in der Region entfernt sein, obwohl es dafür am besten aufgestellt war. Die Frustration der Politik- und Sicherheitselite in Bukarest wird zunehmen mit der Angst, dass sie bei den nächsten Wahlen weggefegt wird - in einem ähnlichen Kontext wie 2004, als unter dem Eindruck der Orangen Revolution in der Ukraine Traian Basescu überraschend die rumänischen Präsidentschaftswahlen gewann.

Und wenn der Kreml, für den der eigentliche Casus Belli das Festhalten der Ukrainer an westlichen Werten war, sich praktisch im Krieg mit dem Westen befindet - welche anderen Kräfte gibt es in Russland, die eine Eskalation verhindern und Wladimir Putin entmachten könnten?

Ich glaube, dass Russland sich schon seit langem im Kriegszustand mit dem Westen befindet, nur dass dieser seit dem 24. Februar 2022 die Form eines konventionellen Kriegs angenommen hat. Was die Fähigkeit der russischen Elite betrifft, eine Eskalation zu verhindern, mache ich mir keine Illusionen. Aber ich schließe ein Szenario nicht aus, in dem Putin durch einen Putsch von der Macht verdrängt wird und ein neuer Führer versucht, den Krieg zu beenden, um eine demütigende Niederlage und Friedensbedingungen zu vermeiden, die eine Entwaffnung und Entfaschisierung Russlands beinhalten. Und somit eine neue Weltordnung geschaffen würde, in der Russland keine Gründe mehr hat, als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats zu fungieren.

Der Westen muss aber klarstellen, dass Russland keinen neuen Angriffskrieg, keinen Rachefeldzug vom Zaun bricht. Andernfalls werden auch die Generationen nach uns ihre Kriege mit Russland führen, und niemand weiß, ob sie gewinnen werden. Es könnte jederzeit ein neuer Putin im Kreml auftauchen und Mittel- und Osteuropa erneut bedrohen.

Der rumänische Historiker Armand Gosu ist außerordentlicher Professor für politische Geschichte Russlands und der Sowjetunion an der Universität Bukarest.

Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz