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Politik

Muktada al-Sadr: Jenseits der Konfessionen

14. Mai 2018

Noch vor dem endgültigen Ergebnis der irakischen Parlamentswahlen deutet sich ein Triumph des Schiitenführers Muktada al-Sadr an. Dieser will nichts Geringeres als einen kompletten Neuanfang für sein Land.

Irak, Bagdad: Portrait Muqtada al-Sad
Bild: picture-alliance/K. Kadim

Der Kleriker war beunruhigt: Liefen die Dinge schlecht, würde sich eben jene Katastrophe wiederholen, deren Ende sich gerade abzeichnete - nur unter umgekehrten Vorzeichen. Im März 2017 war die militärische Zerschlagung der Dschihadistenorganisation "Islamischer Staat" (IS) absehbar. Die Befreiung Mossuls von den sunnitischen Extremisten des IS stand bevor. Die Niederlage, die die irakische Armee ihnen bereiten würde, war nicht zuletzt auch den vielen schiitischen Milizen zu verdanken, die an ihrer Seite standen.

Eben darum gelte es aufzupassen, warnte Muktada al-Sadr schon im März vergangenen Jahres. "Ich fürchte, die Niederlage des IS ist nur der Beginn einer neuen Phase. Ich fürchte einen konfessionellen und ethnischen Konflikt nach der Befreiung von Mossul", sagte er in einem Interview mit dem Internet-Magazin Middle East Eye. "Das will ich vermeiden. Ich bin sehr stolz auf die Vielfalt des Irak, aber ich fürchte, es könnte zu einem Genozid an irgendeiner ethnischen oder konfessionellen Gruppe kommen."

Abschied vom Konfessionalismus

Welche das sein könnte, ließ al-Sadr offen. Sehr gut hätten es die Sunniten sein können, die nun, nachdem der IS zerschlagen war, keine konfessionell ausgerichtete Schutztruppe mehr hatten, und sei es eine terroristische. Die Grundüberlegung al-Sadrs zielte indessen auf etwas Anderes: Es käme darauf an, die konfessionelle Logik ganz grundsätzlich zu überwinden. Gelänge das nicht, würden sich die religiösen Gruppen des Irak immer wieder, aus den unterschiedlichsten Anlässen, bekämpfen. Der Schutz der Bevölkerung könne und dürfe nur von einer einzigen Instanz geleistet werden: "Die Sicherheit sollte ausschließlich in den Händen der irakischen Armee liegen."

Masse und Macht: Anhänger al-Sadrs demonstrierten schon 2016 in Bagdad für ReformenBild: picture alliance/H. Mizban

Muktada al-Sadr, dessen Bündnis Sairun nun womöglich als Partei mit den meisten Stimmen aus den irakischen Parlamentswahlen hervorgehen könnte, habe sich bereits vor geraumer Zeit von der konfessionellen Logik verabschiedet, sagt Tim Petschulat, Leiter des Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Amman. Der Sinneswandel des einflussreichen schiitischen Predigers gehe auf das Jahr 2015 zurück. "Damals hat eine Gruppe überwiegend jüngerer säkularer Kräfte mit Straßenprotesten begonnen. Ihr Motto war 'Brot, Freiheit und ein ziviler Staat'. Mit diesen Worten haben sie auf Veränderung gedrängt. Muktada al-Sadr hat sich dieser Bewegung sehr schnell angeschlossen."

Keine Angst vor den Säkularen

Nach der US-Invasion 2003 hatte Muktada al-Sadr seine schiitischen Milizen noch in den Kampf gegen die amerikanischen Soldaten geschickt. Durch ihren entschlossenen Widerstand hatte sich die Gruppe in den Augen der Bevölkerung hohe Achtung erworben. Doch damals - der IS war noch gar nicht geboren - deuteten sich die zerstörerischen Folgen des Konfessionalismus bereits an. So mag es ein längerer Reifeprozess gewesen sein, an dessen Ende al-Sadr sich entschloss, die religiösen Gräben zu überwinden.

Der Schritt dahin verlief über Bündnisse mit säkularen Kräften. Für den Schiitenführer war das kein leichter Schritt, sagt Tim Petschulat: "Die Säkularen - Kommunisten, Sozialdemokraten und andere - waren bis dahin keine Freunde der Sadristen. Diese hatten sie als Ungläubige beschimpft. Al-Sadr erkannte aber, dass sich die wesentlichen Probleme des Landes nur gemeinsam lösen ließen. Wirtschaftliche Verbesserungen, Freiheit und auch die Überwindung des konfessionellen Systems im Irak: Das waren Ziele, die alle Iraker überwinden wollten. Dafür gingen sie zusammen auf die Straße."

US-Soldaten im Irak im Jahr 2003Bild: picture-alliance/dpa/C. Ison

Nationaler Lernprozess  

Dem gesamtirakischen Anliegen verpflichtete sich Al-Sadr auch im Wahlkampf - mit großem Erfolg, wie die bisherigen, noch nicht endgültig ausgezählten Stimmen für sein Bündnis andeuten. Dabei konnte er auch auf den Reifeprozess setzen, den weite Teile der irakischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren durchlaufen hatten. "Die meisten Iraker haben verstanden, dass keine Konfession der anderen ihren Staat aufzwingen kann. Eben das hatte ja der ehemalige schiitische Premier Nuri al-Maliki versucht", erläutert Petschulat. "Seine Politik hinterließ den Eindruck, er wolle Rache an den Sunniten nehmen für das, was sie den Schiiten unter Saddam Hussein angetan haben. Das hat aber zu nichts geführt, weder wirtschaftlich noch politisch. Wie vergeblich dieser Versuch war, haben viele Iraker jetzt wohl eingesehen." 

Schon jetzt gilt der Erfolg al-Sadrs als Klatsche für die etablierten Parteien. Einige von ihnen hätten viele Millionen Dollar aufgewendet, um die Wähler für sich zu gewinnen, heißt es in einem Kommentar der irakischen Zeitung Al-Madda. Das aber habe nicht gefruchtet. Die niedrige Wahlbeteiligung - knapp 45 Prozent - sei ebenso eine Absage an das politische Establishment gewesen wie der Triumph Al-Sadrs. "Den Wählern ging es um die nationale Identität, nicht um eine konfessionelle oder eine, die im Namen einer Partei geschmiedet wurde. Es ging ihnen um die Organisation der staatlichen Institutionen und um den Kampf gegen die Korruption", schreibt die Zeitung.

Ruf nach Reformen: Iraker vor einem Wahllokal in MossulBild: picture-alliance/ZUMA Press

Neues Kapitel in der irakischen Geschichte?  

Bei all dem schien al-Sadr einer der glaubwürdigsten politischen Akteure zu sein. Er führt sein Bündnis zwar an, kandidiert selbst aber nicht. Sollte seine Bewegung tatsächlich die meisten Stimmen bekommen haben, heißt das noch nicht, dass sie den nächsten irakischen Premier stellt. Das eigenwillige irakische Wahlgesetz orientiert sich daran, welche Partei nach der eigentlichen Wahl die breitesten Bündnisse zu schließen vermag. Doch der Triumph Al-Sadrs ist eine Lektion für die etablierten Parteien. Er deutet womöglich den Beginn eines neuen Kapitels in der zuletzt so dunklen Geschichte des Irak an.  

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika