Monster gesucht
31. Oktober 2012Mitten in Berlin, nur wenige Schritte vom Anhalter Bahnhof entfernt, steht sie: eine der gruseligsten Attraktionen der Hauptstadt. Der Weg hinein führt über eine breite Treppe, vorbei an grauen Betonwänden und durch eine unangenehm quietschende Stahltür. Kaum fällt die ins Schloss, ertönt ein blechernes "Willkommen im Berliner Gruselkabinett", es grüßt eine spärlich beleuchtete, blutüberströmte Silikonfigur am Eingang, die ihren abgetrennten Kopf in der Hand hält. Der Kassierer nebenan ist allerdings aus Fleisch und Blut, den Kopf trägt er an der richtigen Stelle, fragt man ihn nach Marlit Friedland und lässt dabei das Stichwort "Bewerbung" fallen, reicht er ohne zu zögern den Personalfragebogen rüber: "Ausfüllen, bitte." Zeit, sich umzuschauen. Düstere Monstermasken schauen ausdruckslos von den Wänden herab, abgehalfterte Skelette räkeln sich auf alten Kinositzen. In den Gängen schummriges Licht, es riecht ein wenig vermodert.
Schnell, schneller, Erschrecker
Marlit Friedland ist die Chefin des Hauses, nach einem kurzen Telefonat hat sie Zeit für ein Gespräch. Seit 15 Jahren betreibt die 65-jährige schlanke Dame dieses Gruselkabinett, bislang habe es jedoch keiner ihrer Vollzeit-Erschrecker länger als zwei Jahre ausgehalten. "Die wollen wieder ans Licht", erklärt sie und mustert mich von der Seite. „Sie sind geeignet, weil sie sehr sportlich aussehen." Ach ja? Der Job erfordere Laufkondition, man müsse schneller sein als die Besucher und mehrere Kilometer am Tag laufen. "Hier kommen ja nicht nur alte Opas und Omas her, sondern 80 Prozent junge Leute. Wer da nicht schnell ist, wird in die Pfanne gehauen." Erste Bewerber haben sich bereits vorgestellt, sogar ein Blinder, doch weder ihn noch Frauen will Marlit Friedland einstellen. Das gehe nicht, dafür sei der Job einfach zu gefährlich. Auch wer zu dick oder zu groß ist, habe kaum Chancen. Mit meinen 1,88 Meter werde es schon eng, die meisten Türen im Bunker sind zwei Zentimeter kleiner, ein Problem. "Schauen sie es sich doch einfach mal an!" Und Robin Kiewe? Der sei bereits oben unterwegs, man werde ihm schon begegnen. Laut lachend schickt mich Marlit Friedland in die erste Etage.
Schreie im Bunker
Allein und ohne die Chefin geht es über einen breiten Aufgang die Stufen hinauf zum eigentlichen Gruselkabinett. Noch eine Stahltür, die sich nur mit einiger Kraft öffnen lässt und mit einem lauten Knall ins Schloss fällt. Dahinter beginnt die Dunkelheit. Nebelschwaden wabern durch den Raum, hier und da ein paar alte Plastikbäume, im Hintergrund schreit eine Eule vom Band. So richtig gruselig ist das noch nicht. Ich mache noch ein paar Schritte, dann ein kurzer Moment der Stille. Plötzlich ein tiefes Grunzen direkt neben mir, ein Schatten, trampelnd rennt eine dunkle Gestalt an mir vorbei. Mein herzhafter Schrei schallt durch den Bunker. Fieses Gelächter.
Zu Tode erschrocken schaue ich mich um und sehe: Nichts. Robin Kiewe, der noch amtierende Erschrecker, macht einen guten Job. Immer wieder schafft er es, plötzlich kurz aus der Dunkelheit aufzutauchen und mir einen ordentlichen Schrecken einzujagen.
Erschreckend lustiges Praktikum
Robin Kiewes Arbeitskleidung besteht aus einer düsteren Gummimaske und einem schwarzen Mantel, den Job macht er seit 13 Monaten. Viermal pro Woche, insgesamt 38 Stunden, ist er hier als Erschrecker unterwegs. Weil es für seinen Job keine Berufskennzahl gibt, ist er offiziell als Museumsaufsicht angestellt. Gut 1000 Quadratmeter misst sein Arbeitsbereich, was dem 25-jährigen einige Kondition abverlangt. Offensichtlich hat er Spaß an der Arbeit, immer wieder springt er aus dunklen Ecken auf die Besucher zu, die schreien sich die Seele aus dem Leib. Langweilig sei das keineswegs, nur die Dunkelheit nerve ihn langsam. "Auf jeden Fall brauchst du eine große Laufbereitschaft", erklärt er mir. Sonst noch was? "Du musst erahnen können, wo die Leute lang laufen. Das kriegt man aber mit der Zeit mit." Klingt machbar. Mit einer schwarzen Kapuze auf dem Kopf schleiche ich mich an eine dänische Familie heran, warte kurz, dann springe ich hinter der Ecke hervor und imitiere Robins Grunzen. Es gelingt eher mittelmäßig, doch die Gruppe scheint beeindruckt. Schreie ertönen, ängstliche Augenpaare schauen mich an. Schnell erkläre ich ihnen, dass ich zum Praktikum hier bin und mich gerade für den Job des Erschreckers bewerbe. Wie war ich? "Ja, sehr gut, very good", lobt mich der Famlienvater. "Scary", raunt seine Frau und ergreift die Flucht.
Nach etwa 30 Minuten Praktikum sind die Grundlagen klar - und es macht Spaß. Mein Mentor scheint ganz zufrieden mit mir. "Das Prinzip ist schon richtig, du musst nur ein wenig mehr mit den Füßen aufstampfen." Ich bin eben noch Anfänger. Robin mag seine Arbeit, hätte sie sicher noch ein paar Monate länger gemacht, doch nun gibt es einen neuen Job: Ab Dezember geht er zur Bundeswehr. Irgendwann reicht es mir, die Beine werden schwer, der Hals kratzt vom vielen Grunzen. Ganz so sportlich bin ich wohl doch nicht. Robin Kiewe will mich trotzdem an seine Chefin weiter empfehlen. Ich verdrücke mich über eine Hintertreppe, ein kurzer Abschied vom Kassierer, noch einmal quietscht die Stahltür, dann stehe ich wieder an der Straße und atme frische Luft. Die Sonne scheint über Berlin, alle Dunkelheit verfliegt, die vorbei laufenden Menschen sehen wunderbar normal aus. Erschrecken möchte ich sie jetzt nicht, das ist einfach nicht mein Job.