1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Muslime und Juden gemeinsam in Auschwitz

23. Januar 2020

Wenige Tage vor dem 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers besucht der bislang ranghöchste Vertreter des Islam die Gedenkstätte. Es gibt bewegende Momente.

Polen Besuch Gedenkststätte Auschwitz Abdulkarim Al-Issa
Bild: Getty Images/AFP/B. Siedlik

Geste der Solidarität

02:49

This browser does not support the video element.

Verspätung. 30, bald 40 Minuten später als vorgesehen rollt ein Konvoi, flankiert von Polizeiwagen, an der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau vor. Aber was sind schon 30 Minuten Verspätung, wenn es um einen Weg geht, der knapp 20 Jahre vorbereitet wurde?

Denn an diesem sonnigen Wintertag kommt einer der wichtigsten Muslime weltweit an den Ort des Mordens, an dem weit über eine Million Menschen, vor allem Juden, industriell ermordet wurden.

"Arbeit macht frei" steht über dem Eingang der KZ-Gedenkstätte in Auschwitz. Nun gehen Juden und Muslime langsamen Schrittes gemeinsam hindurch. Der Generalsekretär der Muslimischen Weltliga, Scheich Muhammad Al Issa, weitere islamische Würdenträger aus knapp 20 Ländern weltweit und die gesamte Spitze des American Jewish Committee (AJC). Die 1906 gegründete Organisation setzt sich für Anliegen und Interessen von Juden weltweit ein, seit 20 Jahren steht das Gespräch mit Muslimen weit oben auf der Agenda. 

Al Issa und Harris Hand in Hand

Al Issa schreitet mit AJC-Direktor David Harris in der ersten Reihe, manchmal Hand in Hand. Der 54-jährige Islamgelehrte aus Mekka und der 70-jährige jüdische Diplomat, selbst Sohn von Holocaust-Überlebenden. Sie sind, man kann es so sagen, Freunde. Auch hier.

Muhammad Al Issa und David HarrisBild: Getty Images/AFP/B. Siedlik

Besuche offizieller Delegationen in der Gedenkstätte haben ihre Routinen. Leise, kaum hörbare Erläuterungen für die Kopfhörer, etwas Zeit in den besonders erschütternden Schauräumen, Innehalten an der "Mauer des Todes", jener Wand, an der die Deutschen tausende Polen erschossen, ein Gang zu weiteren Gebäuden, die allesamt die Grauen des Todes nur erahnen lassen. Hier und da Kamera-Termine. Dann Birkenau, dort nur noch Entsetzen.

Große muslimische Delegation

Heute ist vieles anders. Durch die Räume, in denen Berge von Haaren der Opfer und Halden von Schuhen, Koffern und Bürsten liegen, einst gesammelt mit der deutschen Gründlichkeit der Mörder, führt Daniel Pincus aus New York. Der 41-Jährige erwähnt, dass die Nazis seine Urgroßeltern aus Berlin und weitere Verwandte ermordeten, und wie dies seine Familie bis heute beschäftigt.

Im Gedenken vereint: Juden und Muslime in AuschwitzBild: Getty Images/AFP/B. Siedlik

Nach dem Verlassen des Gebäudes legt Al Issa seine Hand um Pincus' Nacken, hält ihn, sichert ihm flüsternd seine Anteilnahme zu. Wie Al Issa folgen rund 20 weitere muslimische Repräsentanten den Worten, aus Indonesien und den USA, vom Balkan, aus Skandinavien, aus Ländern der arabischen Welt. Aus Deutschland ist der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Abdassamad El Yazidi, mit dabei. Auch er ist zum ersten Mal in Auschwitz.

Vorbereitungen für den Jahrestag laufen

Mehr als 30 Minuten bleibt der Tross in den Schauräumen, über deren Eingang steht: "Beweise für die Verbrechen". Schon nach wenigen Minuten verlassen die beiden weiblichen Mitglieder der Delegation, Vertreterinnen aus Singapur und Tunesien, die Räume. "So schrecklich" sei das, mehr könnten sie einfach nicht sagen.

Kerzen auf dem Mahnmal an der RampeBild: DW/C. Strack

Später in Birkenau laufen die Delegationen zunächst durch das Gelände, das sonst nur stummer Zeuge ist und nun wie Baugrund anmutet. Die Vorbereitungen laufen für den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung, mit mehr als 250 Überlebenden und offiziellen Gästen.

Ein fußballfeldgroßes Zelt, dutzende Lichtmasten, Lautsprechertürme, Dixi-Toiletten. Aber niemanden scheint das zu stören. Sie sehen die Gleise, die gesprengten Reste der Gaskammern, dann die Rampe, jenen Übergang vom leidenden, hoffenden Leben in den Tod.

Thora und Koran werden zitiert

Ari Gordon spricht, beim AJC für den jüdisch-muslimischen Dialog zuständig und selbst, wie die meisten der US-Delegation, Nachkomme von Überlebenden. Gordon wechselt vom Englischen ins Hebräische ins Arabische, zitiert Thora und Koran. Spricht über das Leid, die Hoffnung auf das Gute, die Bitte um den Segen Gottes. Zwei weitere Delegierte erinnern innig an ihre ermordeten Vorfahren.

Die Teilnehmer entzünden Kerzen, stellen sie auf das Mahnmal. Gebete folgen. Rabbiner David Rosen trägt Psalm 23 vor und singt den Kaddisch, ein jüdisches Klagegebet. Dann breiten Helfer Decken auf den kalten Boden, die islamischen Geistlichen suchen die Richtung nach Mekka, knien nieder, beten leise. Vor dem Mahnmal.

Al Issa und seine Delegation beim Beten vor dem MahnmalBild: Getty Images/AFP/B. Siedlik

Viele der jüdischen Vertreter, auch gestandene ältere Herren, kämpfen mit Tränen der Rührung. "Wir wussten, dass das kommt", sagt später einer, "darauf gefasst waren wir aber nicht." Und selbst langjährige polnische Mitarbeiter der Gedenkstätte können sich an keine vergleichbare Szene erinnern.

"Nie wieder!"

Und erst danach ergreift Muhammad Al Issa in arabischer Sprache das Wort, immer wieder ins Englische übersetzt. Er könne das "im Namen aller muslimischen Gäste" sagen: Sie seien tief berührt über das Gesehene, über dieses schreckliche Verbrechen, dieses "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Es sei die große Verantwortung der Weltgemeinschaft, "sicherzustellen, dass sich das nie wiederholt".

Muhammad Al Issa, Generalsekretär der Islamischen WeltligaBild: Getty Images/AFP/B. Siedlik

Dieses "Nie wieder!" kommt in der frei vorgetragenen Rede noch zwei, drei Mal vor. Die Welt, alle Menschen gemeinsam müssten nach Frieden streben, das Böse bekämpfen. "Wir bitten Gott, uns zu helfen, um Frieden zu erreichen. Friede ist so ein großes Wort", so Al Issa.

"Wo war Gott?" - "Wo war der Mensch?"

AJC-Direktor Harris spricht in seiner Erwiderung von einem "historischen Tag". Vom "Wo war Gott?", einer der Kernfragen, die Auschwitz in sich birgt, kommt er zum "Wo war der Mensch?" Auschwitz, so Harris, war der Verrat an Gott. Viele der deutschen Täter seien Akademiker gewesen, studierte Leute, Ingenieure. Sie hätten alles gelernt, aber nicht Menschlichkeit.

David Harris, Direktor des American Jewish Committee (AJC)Bild: Reuters/K. Pempel

Harris betont später, der Mensch habe immer die Wahl. Al-Issa und er, "wir haben unsere Wahl getroffen. Unsere Wahl heißt Salam, heißt Schalom, heißt Friede, heißt Zusammenleben, Freundschaft, gegenseitiges Verständnis". Wo sei dies besser gesagt als hier, neben den Gaskammern von Auschwitz, fragt Harris und zitiert ein Friedenswort des Propheten Jesaja.

Die 30 Minuten Verspätung vom Anfang sind längst vergessen. Am Schluss dauert der Aufenthalt knapp zwei Stunden länger als geplant. Busse und schwarze Limousinen machen sich in den Abend auf den Weg nach Warschau. Für das nächste Zeichen am Freitag: den gemeinsamen Besuch einer Moschee und einer Synagoge in der polnischen Hauptstadt. Eine lange Reise geht weiter.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen