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Politik

Wie stabil sind die Demokratien?

Helle Jeppesen
13. September 2019

Weltweit leben mehr Menschen in unfreien Staaten als in Demokratien. Doch auch in Ländern, wo die parlamentarische Demokratie in der Gesellschaft fest verankert ist, kriselt es.

England, London: Leeres Unterhaus
In London wurde das Parlament nach Hause geschicktBild: picture-alliance/dpa/PA

In London schickt Premierminister Boris Johnson das Parlament in Zwangspause, in Deutschland steigt die Besorgnis über den Vormarsch der populistischen AfD und in Russland gab es jüngst wochenlange Massenproteste, weil viele Oppositionskandidaten gar nicht erst bei den Kommunalwahlen zugelassen wurden.

Weltweit stehen Demokratien immer mehr unter Druck. Das zeigt auch der  Demokratie-Index der britischen Analysefirma Economist Intelligence Unit (EIU), der Anfang des Jahres veröffentlicht wurde. Laut Index leben weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung in einem der weltweit nur 20 Länder, die im Index als „vollständige Demokratie" bewertet werden.

"Wenn Regierungen nicht die Politik umsetzen, die die Wähler wollten und die Wähler dann wiederum das Vertrauen in die Demokratie verlieren, dann haben wir ein Problem", betont Fiona Mackie von der EIU.

In vielen Ländern verlieren immer mehr traditionelle politische Parteien die Unterstützung in der Bevölkerung. Gesellschaftsgruppen wie etwa Einwanderer oder Jugendliche haben kein Wahlrecht und sind in den Parlamenten nicht vertreten.

"Wenn wir uns anschauen, wer in den Parlamenten sitzt, dann sehen wir ein starkes Ungleichgewicht. Es sind vor allem Akademiker/innen oder eben Menschen, die es sich auch leisten können, sich politisch zu engagieren", erzählt Norma Tiedemann, politikwissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität Kassel.

Kein Spiegelbild der Gesellschaft

Das ist kein europäisches Phänomen: In allen Demokratien, egal ob sie als vollständige oder unvollständige Demokratien eingestuft werden, sind die Parlamente kein komplettes Spiegelbild der Gesellschaft. Das hat auch Einfluss auf die Entscheidungen, die Regierungen und Parlamente treffen, so Tiedemann:

"Diejenigen, die gewählt werden und die Bevölkerung als Ganzes repräsentieren sollen, treffen oftmals Entscheidungen, die eben nicht im Interesse der Gesamtbevölkerung oder der unteren und mittleren Einkommensschichten der Bevölkerung sind."

Sinkende Wahlbeteiligung

Viele Wahlberechtigte gehen nicht mehr wählen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Stimme sowieso keinen Einfluss hat. So lag die Wahlbeteiligung bei den Moskauer Kommunalwahlen unter 22 Prozent.

Bei den jüngsten deutschen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen gingen immerhin über 60 Prozent der Wähler an die Urnen. Dass die rechtspopulistische AfD zweitstärkste Fraktion in den beiden Landtagen wurde, werten viele Wahlforscher als  Zeichen des Protestes.

Dabei gibt es auch soziale Unterschiede im Wahlverhalten.

"Die meisten Studien über Wahlbeteiligung in den letzten Jahrzehnten zeigen, dass Menschen mit geringeren Einkommen und geringeren formalen Bildungsabschlüssen weniger wählen gehen", sagt Politikwissenschaftlerin Tiedemann.

Wahlrecht nicht für alle

Doch wer darf überhaupt wählen gehen? In den meisten Ländern liegt das Wahlalter bei Parlamentswahlen bei 18 oder 20 Jahren. In Brasilien, Ecuador, Nicaragua, Argentinien und Kuba gilt das Wahlrecht schon ab 16, in den Seychellen, Osttimor und dem Sudan ab 17. Es gibt Sonderregelungen: So dürfen Arbeitnehmer in Serbien und Montenegro schon ab 16 wählen und in Indonesien gilt das Wahlrecht für alle, die verheiratet sind.

Viele Teilnehmer der Fridays for Future-Demonstrationen sind zu jung, um wählen zu dürfen (Bild: Lausanne, 9.8.2019)Bild: picture-alliance/KEYSTONE/J. C. Bott

In den meisten Ländern der Welt sind Eingewanderte vom nationalen Wahlrecht ausgeschlossen, wenn sie keine eigene Staatsbürger sind. Lediglich in Chile, Uruguay, Neuseeland und Malawi dürfen Ausländer mit ständigem Wohnsitz im Land das Parlament mitwählen.

In Deutschland dürfen deutsche Staatsbürger ab 18 Jahren wählen, in einigen Bundesländern gilt das Wahlrecht für Kommunal-und Landtagswahlen ab 16.

EU-Bürger aus anderen EU-Ländern dürfen in Deutschland an Kommunal- und Europawahlen teilnehmen. Nicht-EU-Bürger dagegen haben kein Wahlrecht – in Deutschland heißt das, dass rund acht Millionen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft nicht wählen können.

Globales Frauenwahlrecht

Seit auch Saudi-Arabien 2015 als letztes Land der Welt das Wahlrecht für Frauen einführte, ging ein mehr als hundert Jahre dauernder Kampf für das Frauenwahlrecht zu Ende. Doch in den Parlamenten sind Frauen weltweit noch immer unterrepräsentiert. Schon ein Frauenanteil von 20 Prozent zählt als Erfolg.

"Die Messlatte für die Partizipation der Frauen ist sehr niedrig", sagt Fiona Mackie von der EIU über die neuesten Erkenntnisse des Demokratie-Index. "Doch die Zahl an sich erzählt nicht die ganze Geschichte. Es muss auch eine sinnvolle Partizipation sein. So sehen wir zum Beispiel einen hohen Frauenanteil in Ruanda, doch das Parlament dort hat nicht sehr viel Macht."

Kollektive Selbstbestimmung

Trotz allem seien die bestehenden demokratischen Institutionen ein enormer emanzipatorische Erfolg, den es unbedingt zu verteidigen gelte, so die Politikwissenschaftlerin Tiedemann. "Denn darin steckt ja das Versprechen der Gleichheit, darin steckt das Versprechen einer kollektiven Selbstbestimmung, dass wir quasi als Gesellschaft rational unser gemeinsames Leben organisieren und verwalten."

Laut einer aktuellen Umfrage denken acht von zehn Deutschen ähnlich: Sie sehen die Demokratie als die beste Regierungsform für Deutschland. Allerdings sind laut derselben Umfrage vier von zehn deutschen mit der Umsetzung der Demokratie unzufrieden. Vor allem bemängeln sie, dass es zu wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt.

Doch in der globalisierten Welt würden wichtige Entscheidungen immer weniger in Parlamenten getroffen, sondern von Unternehmen, die auf Privatisierung, Profit und Konkurrenz ausgerichtet seien:

"Das alles führt dazu, dass es enorm große Bereiche gibt, die unser tägliches Leben beeinflussen, für die wir nicht einmal formal irgendwelche Mitbestimmungsrechte haben", sagt Tiedemann. "Die Demokratie, wie wir sie haben, verspricht uns etwas, was sie dann nicht halten kann, weil ihr Wirkungsbereich unglaublich beschränkt ist."

Neue Demokratiebewegungen

Doch die Politikwissenschaftlerin sieht auch Hoffnung. Ihr Thema für die Promotion: „Der neue Munizipalismus – demokratischer Widerstand von der lokalen Ebene gegen autoritäre Staatlichkeit" zeige, dass esneue Ansätze durch Bürgerbeteiligunggebe, um die Demokratie zu stärken.

"In Spanien insbesondere haben sich nach den massiven Protesten gegen das Krisenmanagement, das verheerende soziale Folgen hatte, Menschen zusammengeschlossen und haben alte Traditionen der lokalen Organisierung gesucht und diese wieder praktiziert", erzählt sie.

Auf lokaler Ebene sind neue Bündnisse entstanden, die in den Städten lokal verankert sind und eine Demokratisierung der demokratischen Institutionen von unten voranzutreiben suchen. In Kroatien, so Tiedemann, gebe es eine Initiative, um ein sogenanntes „ethisches" Kreditinstitut zu gründen, in dem demokratisch entschieden wird, welche lokalen Projekte gefördert werden sollen, zum Beispiel bei Firmengründungen. Weltweit gebe es viele solcher Beispiele.

"Ich glaube, der wichtige Punkt dabei ist eben, dass Menschen sich in ihrem Alltag organisieren und dort versuchen, Demokratie jeden Tag zu leben."

Fiona Mackie von der EIU bestätigt, dass das politische Engagement von Bürgern weltweit wächst, einer der wenigen positiven Trends im diesjährigen Demokratieindex.

"Es  geht ja nicht nur um Wahlbeteiligung. Es geht um Interesse für politische Nachrichten, um politisches Engagement und darum, dass Menschen Politik und Demokratie ernst nehmen."

 

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