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Politik

Mysteriöser Mord an Tschetschenen in Lille

7. Februar 2020

In einem französischen Hotel taucht die Leiche eines regimekritischen tschetschenischen Bloggers auf. Bisher sind nur wenige Fakten bekannt, aber tschetschenische Aktivisten befürchten bereits das Schlimmste.

Frankreich Polizeiauto
Französische Polizeikräfte im April 2018 in LilleBild: Getty Images/AFP

Das Hotel "Coq Hardi" direkt am Bahnhof von Lille macht auf Internetbildern einen unscheinbaren Eindruck: helle Fenster, gemusterte Tapeten und etwas in die Jahre gekommene Möbel. In einem dieser Zimmer machten Hotelmitarbeiter am 30. Januar einen grausigen Fund: Sie fanden eine männliche Leiche mit Stichverletzungen am Hals. Als die Lokalzeitung der nordfranzösischen Stadt am selben Abend berichtete, war die Identität noch nicht bekannt.

Inzwischen weiß man, dass es sich um den 44-jährigen Blogger Imran Alijew handelte, einen Tschetschenen, der sich in seinen Videos kritisch über das dortige Regime geäußert hatte. Unter dem Pseudonym "Mansur Staryj" kritisierte er auch Ramsan Kadyrow persönlich, den Putin-treuen Herrscher der russischen Teilrepublik.

Derzeit ist Alijews Youtube-Kanal blockiert. Er hatte sich mit einem kritischen Kommentar offenbar auch Feinde in der tschetschenischen Nachbarrepublik Inguschetien gemacht - weitaus mehr Theorien besagen aber, dass ihn seine Kadyrow-Kritik das Leben gekostet haben könnte.

Die Nachbarn Inguschetien und Tschetschenien streiten seit Jahren um Grenzverläufe

Mord aus politischen Gründen?

Die französische Polizei bestätigte auf DW-Anfrage, dass der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben sei und wegen Mordes ermittelt werde. Bislang wurde niemand verhaftet. Zu weiteren konkreten Fragen der DW schwieg die Polizei - unter anderem, ob es konkrete Spuren in andere europäische Staaten gibt. Die Nachrichtenagentur AFP hatte aus Ermittlerkreisen zitiert: "Angesichts seiner öffentlichen Kritik an Kadyrows Regierung trägt die Tötung 'alle Anzeichen eines politischen Motivs'" - auch, ob in diese Richtung ermittelt werde, ließ die Polizei auf DW-Anfrage offen.

Umso detaillierter sind die Mutmaßungen aus Alijews Umfeld, was passiert sein könnte: In einem Video nennt ein weiterer tschetschenischer Blogger namens Tumso Abdurachmanow den Namen eines Mannes, den er für den Mörder hält. Dieser sei Mitte Januar über Spanien nach Berlin gereist und von dort aus weiter nach Belgien gefahren. Er habe dort sogar eine Woche bei Alijew gewohnt, bevor er ihn nach Lille begleitete - um ihn dort angeblich mit Schlafmitteln zu sedieren und zu erstechen. Abdurachmanow bat mutmaßliche Helfershelfer in Berlin, sich an die deutsche Polizei zu wenden. Quellen für seine Version der Geschichte nannte er nicht.

Unterdrückung im Kaukausus

Der schwedische Rechtsanwalt Jens Sjölund kann zu diesem konkreten Fall nichts sagen, gibt aber zu verstehen, dass viele Auslandstschetschenen durchaus an solche Informationen aus dem Machtapparat gelangen könnten. Sjölund vertritt viele Tschetschenen, darunter auch Abdurachmanow. Außerdem arbeitet er für die in Schweden registrierte tschetschenische Menschenrechtsorganisation Vayfond, die sich um Exil-Tschetschenen in ganz Europa kümmert. Seit dem Krieg der 1990er- und 2000er-Jahre, in dem die Kaukasusrepublik um ihre Unabhängigkeit von Russland kämpfte, flohen Zehntausende Tschetschenen nach Europa. Gegen Ende des Krieges installierte Moskau Ramsan Kadyrow als Republikchef - der Tschetschenien mit harter Hand regiert.

Ramsan Kadyrow steht seit 2007 an der Spitze TschetscheniensBild: picture-alliance/dpa/V. Sharifulin

"Er kontrolliert Polizei und Sicherheitsapparat in Tschetschenien", sagt Sjölund der DW. "Es gibt Beweise, dass sie Menschen foltern oder ihnen falsche Vorwürfe anhängen, zum Beispiel Drogen unterschieben und sie verhaften." Im Visier sind neben Kritikern der Regierung auch Homosexuelle. Und selbst Exil-Tschetschenen müssten weiter fürchten: "Wenn sie eine Person unbedingt finden wollen, können sie auch Familienangehörige in der Heimat auftreiben, als eine Art Kollektivstrafe."

Auch wenn im Fall des in Lille getöteten Imran Alijew noch wenige Fakten gesichert sind, fürchten einige Beobachter, dass darin eine neue Qualität der Einschüchterung liegen könnte. Im vergangenen Herbst seien im Netz Drohungen gegen in Europa lebende Tschetschenen aufgetaucht, erinnert sich Anwalt Sjölund. Diese Botschaften trugen weiter zu einer ohnehin nervösen Grundstimmung bei: Am 23. August war der georgische Tschetschene Selimkhan Khangoshvili auf offener Straße in einem Berliner Park erschossen worden. Schnell führten die Spuren des "Tiergarten-Mords" von Deutschland nach Russland; beide Länder wiesen gegenseitig je zwei Diplomaten aus.

Lille und der Berliner Tiergarten

"Der Mord an Khangoshvili im August in Berlin mag eine Warnung an andere Tschtschenen gewesen sein", sagt Sjölund. "Aber es ist auch Fakt, dass Tschetschenien Selimkhan Khangoshvili seit langem auf der Liste hatte." Glaubt man den Aussagen des Bloggers Abdurachmanow, so könnte auch im Fall Alijew wieder eine Spur nach Deutschland führen. Die französische Polizei äußerte sich in ihrer Antwort nicht zur Frage, ob auch ausländische Ermittlungsbehörden eingeschaltet seien. Das deutsche Bundeskriminalamt teilte der DW auf Anfrage mit, dass es aktuell nicht in den Fall involviert sei.

Selimkhan Khangoshvili fiel mutmaßlich russischen Auftragskillern zum OpferBild: privat

In Bezug auf den Tiergarten-Mord, aber auch auf den russischen Giftanschlag gegen den Doppelagenten Sergei Skripal 2018 im britischen Salisbury sagt Sjölund: "Es scheint, dass Russland und Tschetschenien Hand in Hand solche Operationen in europäischen Ländern durchführen." Die Regierungen träfen nicht immer die richtigen Maßnahmen, um die tschetschenische Diaspora davor zu schützen, gesteht aber auch ein: "Natürlich ist es schwierig, Menschen vor Morden am helllichten Tag zu schützen, in die Auftragskiller involviert sind." Ob das bei Imran Alijew wirklich der Fall war, beschäftigt nun die Ermittler. 

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