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PolitikAsien

Nach 9/11: Hat Deutschland in Afghanistan versagt?

Sandra Petersmann | Nina Werkhäuser
11. September 2020

Seit den Terroranschlägen vom 11. September beteiligt sich Deutschland am Aufbau einer Demokratie in Afghanistan. Doch mit welchem Erfolg? Zeitzeugen ziehen für die DW Bilanz.

DW Special zu Bundeswehr 20 Jahre Afghanistan (picture alliance / AP Photo)
Bild: picture-alliance/AP Photo/Anja Niedringhaus

Am Anfang der deutschen Afghanistan-Mission stand vor 19 Jahren ein Satz für die Geschichtsbücher: Er habe dem US-Präsidenten "die uneingeschränkte  Solidarität" zugesichert, betonte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 12. September 2001. Deutschland stellte sich im Krieg gegen den Terror auf die Seite seines wichtigsten Verbündeten und übernahm Verantwortung in Afghanistan - bis heute.

Die Kosten des Krieges

Doch jetzt drückt US-Präsident Donald Trump aufs Tempo und zieht einen Teil der US-Truppen ab. Nach Berechnungen der renommierten Brown University haben die Vereinigten Staaten bisher sagenhafte zwei Billionen Dollar für den Afghanistan-Krieg ausgegeben - das sind 2000 Milliarden Dollar.

Trump will Amerikas längsten Krieg beenden. Das setzt auch Deutschland unter Zugzwang: Gehen die Amerikaner, gehen alle anderen NATO-Partner auch.

Finanziell hat die Intervention die deutschen Steuerzahler nach Angaben der Bundesregierung bis Ende 2018 rund 16,4 Milliarden Euro gekostet. Allein zwölf Milliarden entfielen auf den Einsatz der Bundeswehr. War es das wert?

Afghanistans Palast der Hoffnung

12:00

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Fortschritt und Rückschritt 

Afghanistan ist heute auf dem Papier eine Islamische Republik mit einer demokratischen Verfassung. Frauen sitzen im Parlament, Mädchen gehen zur Schule. Es gibt neue Straßen, Krankenhäuser und Universitäten. Dazu Mobilfunkmasten, Strom- und Wasserleitungen.

Doch das Land hat keinen Frieden gefunden. Nach Angaben der Vereinten Nationen kamen allein in den vergangenen zehn Jahren mehr als 32.000 Zivilisten durch Terroranschläge, Gefechte und Luftangriffe ums Leben, mehr als 60.000 wurden verletzt.

Das Ende 2001 gestürzte Taliban-Regime drängt nach direkten Verhandlungen mit den USA zurück an die Macht. Kaum ein anderes Land ist für mehr Flüchtlinge und Migranten verantwortlich.

Die Deutsche Welle hat Entscheider und Betroffene um ihre Einschätzung gebeten.

Seit 2009 stimmt Roderich Kiesewetter Jahr für Jahr im Deutschen Bundestag über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes ab. Der ehemalige Offizier ist einer der profiliertesten Außenpolitiker der Christlich Demokratischen Union (CDU) von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Roderich Kiesewetter wechselte 2009 von der Bundeswehr in den Deutschen BundestagBild: picture-alliance/dpa/S. Pilick

Für Roderich Kiesewetter war der 11. September schon immer ein besonderer Tag - es ist sein Geburtstag. Seinen 38. feierte er 2001 mit Freunden an einer US-Militäruniversität im kalifornischen Monterey. Kiesewetter war damals noch Berufssoldat. Am Morgen des 11. September rief ihn noch vor dem Frühstück ein Freund an. "Mach den Fernseher an!" Er sah, dass das erste Flugzeug ins World Trade Center gerast war. "Da begann etwas, was mich sehr bewegt hat."  

Deutschlands "schlechtes Gewissen"

Für ihn sind die Terroranschläge "sehr eng mit der deutschen Geschichte verwoben". Die Flüge der Attentäter vom 11. September wurden in Hamburg geplant. Mohammed Atta, der Kopf der Terrorzelle, war von 1992 bis 2001 an der Technischen Universität in Hamburg eingeschrieben. Atta selbst steuerte das Passagierflugzeug, das in den Nordturm des World Trade Centers raste.

"Das schlechte Gewissen" sei ein wesentlicher Grund für das deutsche Engagement in Afghanistan, sagt Roderich Kiesewetter. Weil die deutschen Sicherheitsbehörden nicht verhinderten, dass "auf deutschem Boden Terroranschläge von solchem Ausmaß geplant wurden".

Der ehemalige Bundeswehroffizier gehört zu den wenigen, die sich nicht davor scheuen, die 19 deutschen Jahre in Afghanistan zu bilanzieren. Die DW hat auch viele andere Politiker um ihre Einschätzung gebeten - ohne Erfolg. 

31. Mai 2017: Bei einem Anschlag auf die Deutsche Botschaft in Kabul starben mehr als 150 Menschen Bild: picture-alliance/AP Photo/R. Gul

Kiesewetter hält es für einen fatalen Fehler, dass der Einsatz politisch so lange schöngeredet wurde: "Wir waren dort nie in einem friedlichen Wiederaufbau-Einsatz, und wir sind es auch heute nicht." Die oberste militärische Führung habe die Regierung vor allem zwischen 2002 und 2009 falsch beraten. "Das bedeutete, dass unsere Soldaten falsch ausgestattet waren und viel zu restriktive Einsatzregeln hatten."

Oder anders formuliert: "Dass wir jetzt in Afghanistan sind, verdanken wir nur den militärischen und geheimdienstlichen Fähigkeiten der Amerikaner. Allein auf uns gestellt könnten wir den Einsatz dort nicht leisten."

Die Mission kostet Deutschland aktuell zwischen 800 und 900 Millionen Euro pro Jahr. "Ich glaube, aus heutiger Sicht würden wir nicht nochmal nach Afghanistan gehen." Dort habe man sich "überhoben". Kiesewetter glaubt, dass die Bundesrepublik vor allem in und um Europa herum für Stabilität sorgen muss. Er meint Afrika und den Nahen Osten. 

"Wir sind kein Demokratie-Lehrmeister"

Dennoch hat der CDU-Politiker seit 2009 stets für die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes gestimmt. "Wenn ich gefragt werde, ist es den Preis der vielen hunderttausend Toten wert, dann ist das eine moralische Abwägung, die sehr schwer ist. Die Alternative, es nicht zu tun, hätte Afghanistan jedenfalls nicht besser gemacht."

Einen überstürzten Abzug der amerikanischen Truppen hält er für moralisch falsch, "weil die USA ungeheuer viel investiert haben" und auch "für sehr viele Verluste unter der Zivilbevölkerung" verantwortlich seien. Es sei ein Fehler gewesen, die Taliban nach ihrem Sturz komplett auszuschließen. Solche Fehler "müssen uns demütiger machen. Ich glaube, es war der Beginn einer neuen Demut des Westens."

Was bedeutet das für zukünftige Interventionen? "Unsere Aufgabe ist es, auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten", betont Roderich Kiesewetter. "Aber es ist nicht unsere Aufgabe, als Demokratie-Lehrmeister dazustehen, wenn es gesellschaftlich nicht akzeptiert wird."

Freshta Karim wurde 1992 in den afghanischen Bürgerkrieg hineingeboren. Nach der Machtergreifung der Taliban floh ihre Familie nach Pakistan und kehrte erst nach deren Sturz zurück. 2016 machte Karim in Oxford ihren Master in Staatswissenschaften. Heute leitet sie eine Hilfsorganisation für Kinder.

Freshta Karim hat in Kabul eine Bibliothek auf Rädern für Kinder aufgebautBild: picture-alliance/AP Photo/R. Gul

Zu Hause in Kabul ist am späten Nachmittag mal wieder der Strom weg. Freshta Karim zieht in eines ihrer Lieblingscafés um. Hier gibt es einen Generator und WLAN. "Ich habe mich eigentlich nie ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigt, das Land zu verlassen", erzählt sie. Doch vor ein paar Wochen kam der Terror zu nah. Am 27. Juni wurde ihre Freundin Fatima Khalil brutal ermordet – durch einen Bombenanschlag auf ein Fahrzeug der afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC).

Niemand bekannte sich, nur so viel steht fest: Die Attentate auf Vertreter der Zivilgesellschaft nehmen zu. Karim fragte sich: "Ist es das wert, hier zu bleiben? Lohnt es sich, sein Leben in so große Gefahr zu bringen?"  

"Es hat sich absolut gelohnt"

Die Trauer lähmte sie. "Aber dann begreifst du, dass du wieder aufstehen und weiterarbeiten musst". Es gehe darum, Afghanistan "Stückchen für Stückchen zu reparieren". War der Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten nach dem 11. September richtig? "Ich denke, es hat sich absolut gelohnt, denn hier und heute kannst du Millionen freier Menschen sehen, die vor dem Gesetz gleich sind." Das sagt sie mit Blick auf die Verfassung, in der Meinungsfreiheit und Frauenrechte verankert sind. Noch.

Friedensgespräche mit den Taliban hält auch Freshta Karim für unabwendbar, doch sie flößen ihr Angst ein. "Die ganze Idee, mit Menschen zu verhandeln, die dich und dein Geschlecht als ungleich betrachten, die deine Freunde getötet und deine Kindheit zerstört haben, das war für mich unvorstellbar. Ich musste lange Spaziergänge machen, mit mir selbst und mit meinen Freunden sprechen, um mich darauf einzulassen."

Dieser Taliban-Kämpfer wurde am 26. Mai aus dem Gefängnis entlassen, um Friedensverhandlungen zu ermöglichen Bild: picture-alliance/Zuma/PPI

Sie vermisst eine Geste der Versöhnung der Taliban: "Wir müssen uns mit ihnen hinsetzen, um Frieden zu schaffen - auch wenn sie uns noch nicht einmal um Vergebung bitten. Stattdessen müssen wir ihnen verzeihen, denn wie sonst könnten wir mit ihnen reden?" 

"Wir haben auch viele Opfer gebracht"

Freshta Karim hält es für den Geburtsfehler der Intervention, dass die Taliban Ende 2001 nicht an der internationalen Afghanistan-Konferenz in Deutschland teilnehmen durften. Damals waren sie auf der Flucht, heute kontrollieren sie wieder die Hälfte aller afghanischen Distrikte - oder greifen sie an. "Der zweite Fehler, den wir jetzt machen, ist der Versuch, der Situation schnell zu entkommen", glaubt Karim. "Es scheint manchmal so, als ob die USA um jeden Preis abziehen wollen. Das ist beängstigend, denn es bringt eine enorme Verwundbarkeit zurück."

Trotz Korruption und Machtmissbrauchs innerhalb der Regierung: Die 28-Jährige klammert sich an die Demokratie und wünscht sich mehr Geduld von den westlichen Verbündeten Afghanistans: "Wir haben für unser Land auch viele Opfer gebracht." Wir - damit meint sie die Zivilgesellschaft. "Vielleicht kann ich mir den Luxus, die Hoffnung zu verlieren, auch einfach nicht leisten, weil ich hier lebe."

"Ich werde Roboter bauen"

Freshta Karims Hilfsorganisation "Charmaghz" hat einen großen, blauen Bus in eine rollende Bibliothek für Kinder verwandelt. Dafür hat sie aus Deutschland den Max-Herrmann-Preis bekommen, die wichtigste Auszeichnung für Bibliotheken. Nur etwa 43 Prozent aller Afghanen über 15 Jahre können nach UN-Angaben lesen und schreiben.

"Wenn man die Kinder fragt, was sie mal werden wollen, dann erzählen sie immer: Oh, ich werde Arzt. Ich werde Ingenieur. Ich werde Roboter bauen. Es ist unglaublich schön, diese Kinder mit ihren Träumen zu erleben - ohne irgendwelche Zweifel an ihrer Zukunft oder an der Zukunft ihres Landes."    

Thomas Ruttig (63) ist Afghanistan-Wissenschaftler und ehemaliger Diplomat. Als Ko-Direktor leitet er das Afghanistan Analysts Network (AAN), einen unabhängigen Thinktank mit Sitz in Kabul und Berlin.

Thomas Ruttig (links) besucht eine Moschee in Ghasni, 150 Kilometer südwestlich von Kabul Bild: Privat

Wenn er heute auf Afghanistan blickt, sieht Thomas Ruttig viel Schatten und wenig Licht. "Ich bin sehr traurig und zornig darüber, wie es gelaufen ist." Ruttig hat lange in Afghanistan gelebt, spricht die Landessprachen Dari und Paschto. Als der damalige UN-Diplomat im November 2001 zurück nach Kabul reiste, war das Taliban-Regime gerade gestürzt worden.

"In den Basaren spielte auf einmal Musik, da dudelten wieder die alten Kassettenrekorder, die die Taliban verboten hatten", erinnert er sich. Auch an die Männer, die freudig zum Barbier eilten, um sich die langen Bärte abrasieren zu lassen.

"Es ging nicht nur um die Taliban"

Doch beim Versuch, dem Land zu einer neuen Ordnung zu verhelfen, ist seiner Ansicht nach vieles schiefgelaufen. "Man hat nicht genug auf die Afghanen gehört", kritisiert er. "Man hätte einen institutionellen Rahmen organisieren müssen, in dem die Unbewaffneten und Bewaffneten hätten aushandeln können, wie sie ihren Staat und ihre Gesellschaft entwickeln wollen."

Die Konflikte im Land seien nicht richtig verstanden worden: "Es ging nicht nur um die Taliban. Vieles hat mit Armut zu tun und mit der Auseinandersetzung: Wollen wir eine moderne Gesellschaft werden oder nicht? Ist Demokratie mit dem Islam vereinbar? Diese Dinge hätte man klären müssen."

Für einen gravierenden Fehler hält er, dass man die Mudschahedin-Führer, die längst abgewirtschaftet hatten, wieder an die Macht kommen ließ. "Sie haben sich mit den Geldern, die man ihnen gab, wiederbewaffnet und die Kontrolle über den Staat übernommen."

Und Deutschland? "Diplomatisch hat Deutschland anfangs eine sehr gute Rolle gespielt als Gastgeber der Bonn-Konferenz Ende 2001." Das habe später nachgelassen, als die erhofften Fortschritte nicht eintraten. Den Einsatz der Bundeswehr sieht Ruttig kritisch: "Militärisch hat Deutschland in Afghanistan versagt." Die Bundeswehr habe nach den ersten Anschlägen "nur noch sich selbst geschützt statt die Afghanen".

Thomas Ruttig: "Die Intervention des Westens ist total militarisiert worden"Bild: picture-alliance/AP Photo/Anja Niedringhaus

Korruption und Selbstbereicherung

Die Bundeswehr habe sich, ebenso wie das US-Militär, viele politische Aufgaben einfach angeeignet, sie habe Kontakte zu dubiosen Provinzpolitikern und Warlords unterhalten. "Die Afghanen gewannen dann den Eindruck, die stünden unter dem Schutz der Ausländer." Ruttigs Fazit: "Die Intervention des Westens ist total militarisiert worden."

Gleichzeitig sei eine politische Business-Elite herangezüchtet worden, die "bis ins Knochenmark korrupt" sei. Die Folge: Armut und soziale Ungleichheit. "Viele der armen Afghanen sehen, dass ihre Eliten sich nicht um sie kümmern und sich bereichern in einem Maß, das obszön ist. Sie sehen auch, dass der Westen diese Korruption zu großen Teilen mitverursacht hat."

Wie kommt das Land aus dieser Misere wieder heraus? Der Afghanistan-Wissenschaftler glaubt nicht, "dass diese vielgepriesene internationale Gemeinschaft noch viel dazu beitragen kann oder will". Das Thema sei in den Parlamenten und Parteien kaum noch präsent. "Vermutlich müssen es die Afghanen untereinander klären." Aber das könnte beim Scheitern von Verhandlungen in einem neuen Krieg enden.

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