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Politik

Nach Ausreiseerlaubnis: Verlassen junge Männer die Ukraine?

16. September 2025

Seit Ende August dürfen Ukrainer im Alter von 18 bis 22 Jahren trotz Kriegsrecht ausreisen. Wer nutzt diese Chance aus welchen Gründen? Eine DW-Reporterin hat sich an der ukrainisch-polnischen Grenze umgehört.

Autos am Grenzübergang zwischen der Ukraine und Polen in der Region Lwiw
Grenzübergang zwischen der Ukraine und Polen in der Region LwiwBild: Iryna Ukhina/DW

Es ist neun Uhr morgens. Busse und Autos passieren nach und nach den Kontrollpunkt Schehyni an der ukrainisch-polnischen Grenze in der Region Lwiw. Am Fußgängerüberweg gibt es keine Warteschlange. Die Grenze passieren meist Frauen, Kinder und ältere Menschen - aber auch viele Männer.

Ende August hatte die ukrainische Regierung Männern im Alter von 18 bis 22 Jahren die Ausreise aus dem Land erlaubt, in dem aufgrund von Russlands umfassender Invasion seit dem Frühjahr 2022 das Kriegsrecht gilt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, der Schritt solle dazu beitragen, junge Menschen in der Ukraine zu halten. Die Neuregelung werde, so der Präsident, die Verteidigungsfähigkeit des Landes nicht beeinträchtigen.

Verlassen Männer unter 23 Jahren die Ukraine?

03:37

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In der ukrainischen Öffentlichkeit löste der Schritt jedoch eine Debatte aus: Manche bewerten ihn positiv, andere finden ihn gegenüber aktiven Militärangehörigen und anderen Wehrpflichtigen ungerecht. Und Beobachter, mit denen die DW gesprochen hat, bezweifeln, dass junge Männer, die die Ukraine verlassen, irgendwann zurückkehren werden.

Warum wollen junge Männer ins Ausland?

Drei Stunden verbrachte die DW an der ukrainisch-polnischen Grenze und konnte dort mit zehn Männern sprechen. Sie haben unterschiedliche Gründe für ihre Ausreise.

Mykola ist 22 Jahre alt, kommt aus der Region Iwano-Frankiwsk und arbeitet als Busfahrer. Er sagt, er wolle nach Polen zu seinem Schwager in Krakau. "Für höchstens ein oder zwei Wochen", versichert er und fügt hinzu, dass er dann wieder nach Hause fahren werde, wo seine Freundin auf ihn warte.

Auch der 22-jährige Ilja aus Krywyj Rih will Verwandte besuchen und ist auf dem Weg nach Warschau. "Der Moment ist da und die Chance müssen wir nutzen, um unsere Verwandten für ein paar Tage zu sehen", sagt er.

Doch Familienbesuche sind nicht der einzige Grund für junge Reisende. Vor dem Kontrollpunkt treffen wir auf einen Kleinbus mit neun Ukrainerinnen und Ukrainern im Alter von 18 bis 21 Jahren. Es ist eine Gruppe von Freunden, die zu einem Fußballspiel nach Breslau wollen. Einige von ihnen reisen zum ersten Mal ins Ausland. Sie erzählen, dass sie nur wenige Tage vor dem Spiel die Tickets gekauft und beschlossen hätten, fünf Tage frei zu machen. Danach würden sie zum Studium in die Ukraine zurückkehren.

Unterdessen überquert der 21-jährige Iwan mit seiner Mutter Gloria den Fußgängerüberweg. Sie kommen aus Lwiw und haben keinen Koffer dabei, sondern Einkaufstaschen. Sie wollen zu einem polnischen Supermarkt. "Ich werde meiner Mutter helfen, die Taschen zu tragen, sie werden wahrscheinlich schwer sein", sagt Iwan. Noch am selben Tag wollen sie in die Ukraine zurückkehren.

Der 21-jährige Iwan und seine Mutter Gloria auf dem Weg zu einem Supermarkt auf der polnischen Seite der GrenzeBild: Iryna Ukhina/DW

Längere Auslandsreisen plant Iwan vorerst nicht. Er ist Profitänzer und hat im Laufe seiner Karriere schon viele Länder der Welt besucht. Gemäß der neuen Ausreiseregelung dürfte er nun wieder an Meisterschaften im Ausland teilnehmen, aber er will lieber sein Studium in der Ukraine fortsetzen. "Nächstes Jahr werde ich am Polytechnischen Institut einen Master machen. Ich bin mit allem hier zufrieden. Natürlich ist der Krieg schlecht, aber ich habe hier eben Familie und Freunde", so der junge Mann.

Werden die jungen Männer in die Ukraine zurückkehren?

Doch nicht alle jungen Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren denken an eine Rückkehr in die Ukraine. Andrij ist 21 Jahre alt und stammt aus der Region Iwano-Frankiwsk. In der Ukraine hat er im Bereich von Öl- und Gasbohrungen gearbeitet und will nun im Ausland Geld verdienen, wo er einen Job als Schweißer sucht. Er ist auf dem Weg in die Niederlande. Dort hat er Verwandte und Bekannte. Auf die Frage, ob er in die Ukraine zurückkehren werde, sagt er: "Ja, für Neujahr und für die Feiertage - aber dann fahre ich wieder."

Dieser junge Mann nutzt die Gelegenheit zur AusreiseBild: Iryna Ukhina/DW

Hinsichtlich der Anzahl der Auslandsreisen gelten für Männer zwischen 18 und 22 Jahren keine Beschränkungen. Auch denjenigen, die sich entscheiden, im Ausland zu bleiben, drohen keine strafrechtlichen Konsequenzen. Eine Ausreise ist für junge Männer bis zu ihrem 23. Geburtstag möglich, genaugenommen bis zum Tag vor ihrem Geburtstag. Ab dem Alter von 25 Jahren unterliegen die Männer in der Ukraine der Mobilmachung. Wenn ein Mann daher nach seinem 25. Geburtstag nicht in die Ukraine zurückkehrt und sich nicht beim Militär meldet, droht ihm ein Verfahren, so die neuen Bestimmungen.

Roman, ein Minibusfahrer, fährt Menschen nach Tschechien und Deutschland. Er sagt, seit die jungen Männer ins Ausland reisen dürfen, sei die Zahl der Reisewilligen gestiegen. "Diese Woche gab es sehr viele Anfragen", so Roman. Fünf bis zehn Männer würden pro Woche immer anrufen. Bislang sitzt nur einer seiner Kunden, der 22-jährige Mykola aus der Region Iwano-Frankiwsk, in seinem Bus. Aber in einer Woche gibt es schon den nächsten Termin - mit ihm wird ebenfalls ein 22-Jähriger mitfahren.

Ob die beiden nach einer Woche auch wieder in die Ukraine zurückkehren, werde sich dann zeigen, so der Busfahrer. Mykola selbst versichert, dass er auf jeden Fall wieder zurück will. "Zuhause ist zuhause. Ich sehe mich nicht im Ausland und möchte dort auch nicht leben", sagt der junge Mann.

Droht der Ukraine eine Massenabwanderung?

Grenzbeamte in der Region Lwiw sagen der DW, dass sie keine signifikante Zunahme ausreisender junger Männer verzeichnen würden. "Der Anstieg des Personenverkehrs an den Kontrollpunkten in der Region Lwiw hat in keiner Weise etwas mit der Altersgruppe der 18- bis 22-Jährigen zu tun", sagt Switlana Burda, Sprecherin der zuständigen Grenzschutzeinheit. Ihrer Einschätzung nach "ist diese Personengruppe an den Kontrollpunkten zwar präsent, aber nicht in Massen".

Grenzbeamtin Switlana Burda rechnet nicht mit einer massenweise Ausreise junger MännerBild: Iryna Ukhina/DW

Grund für die deutlich höheren Zahlen sei die übliche Sommer- und Touristensaison, sagt Burda und fügt hinzu: "An den Kontrollpunkten in der Region Lwiw erreicht der Personenverkehr noch Spitzenwerte, es sind 40 Prozent mehr als vor der Sommersaison, auch an Wochenenden hat der Personenverkehr um 16 Prozent zugenommen." Die Grenzbeamten erwarten, dass bis Ende September der Verkehr zurückgehen wird.

Folgen der neuen Ausreisebestimmungen

Der 21-jährige Andrij, der bereits im Ausland arbeitet, bewertet die neuen Regelungen positiv. "Die Menschen werden zuversichtlicher sein, sie werden reisen, Geld verdienen und werden in den Urlaub fahren können." Und Roman - der Minibusfahrer - ist überzeugt: "Wenn es die Möglichkeit gibt, zurückkehren zu können und dann wieder ins Ausland zu fahren, dann wird das die jungen Leute an die Ukraine binden." Ohne diese Möglichkeit würden wahrscheinlich alle jungen Leute gleich im Ausland bleiben, vermutet er.

Gloria, Iwans Mutter, glaubt, dass diejenigen, die weggehen wollten, dies längst getan haben. Ihrer Meinung nach wird noch ein Teil der jungen Leute die Ukraine verlassen, während die restlichen eigene Zukunftspläne zuhause verfolgen werden. "Niemand verändert sein Leben von heute auf morgen. Nur, um raus aus der Ukraine zu kommen? Der Weg steht jetzt offen, man darf reisen, Urlaub machen und sich die Welt anschauen", so die Frau. Sie geht aber davon aus, dass sich alles in einem normalen Rahmen bewegen wird.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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