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PolitikAsien

Nähe der Taliban zur Ideologie von Al Kaida

7. August 2022

Der von den USA getötete Al-Kaida-Chef Sawahiri lebte unter Protektion der Taliban. Laut Experten hält sich aber der Verlust für die Islamisten in Grenzen.

Al Kaida Chef Aiman al-Sawahiri (Archivbild)
Al-Sawahiri in einem Al-Kaida-Video von 2011Bild: SITE INTELLIGENCE GROUP/AFP

Al Kaida "ist in Afghanistan nicht präsent", behauptete der Innenminister der afghanischen Taliban-Regierung Sirajuddin Haqqani, in einem Interview mit dem indischen Nachrichtensender "CNN-News 18". Die Gruppe sei "keine Gefahr mehr", und die Welt sollte sich durch die "bereits tote" Bewegung nicht bedroht fühlen. Zwei Tage später töteten die USA Al-Kaida-Chef Al-Sawahiri in Kabul durch einen Präzisionsschlag aus der Luft.

"Führende Taliban aus dem Umfeld Haqqanis wussten von der Anwesenheit Zawahiris in Kabul", hieß es in einer Pressemitteilung des Weißen Hauses nach der US-Operation. Informationen des Online-Magazins "Al-Monitor" zufolge gehört das Haus, in dem Al-Sawahiri lebte, einem engen Bekannten Haqqanis. Taliban-Kreise bestätigten gegenüber der DW, dass sich Al-Sawahiris Wohnsitz in einem Kabuler Viertel befand, wo bevorzugt Mitglieder der Taliban-Führung leben.

Anti-amerikanische Proteste in Afghanistan nach dem Drohnenangriff auf Al-Sawahiri Bild: AFP

Welche Bedeutung hatte aber diese physische Nähe Sawahiris zur Taliban-Führung, auch nach deren Machtübernahme? Immerhin hatte er 2016 einen Treueeid auf den neuen afghanischen Talibanchef Mullah Haibatullah Achundsada geleistet. "Wir schwören dir Treue im Dschihad, um jeden Meter des Lands der Muslime zu befreien, der überfallen und gestohlen wurde, von Kaschgar bis Andalusien, vom Kaukasus bis Somalia und Zentralafrika, von Kaschmir bis Jerusalem, von den Philippinen bis Kabul, und von Buchara und Samarkand", sagte Sawahiri damals. Damit erneuerte er den Schwur, den Al-Kaida den Taliban seit den 90er-Jahren geleistet hatte.

Allerdings sagt der in Paris lebende Publizist und Terrorexperte Albert Farhat, dass Sawahiri im Netzwerk der Organisation zuletzt trotz seines hohen Rangs aus Altersgründen keine Rolle mehr gespielt habe, zudem sei er seit Jahren schwer krank gewesen. "Das hat seinen Einfluss innerhalb Al-Kaidas stark verringert", so Farhat gegenüber der DW.

Sawahiris Wohnort von Taliban verraten?

Ähnlich sieht es der Extremismus-Forscher Ahmed Ban vom "Emirates Policy Center" in Abu Dhabi: Al-Sawahiri habe den Zerfall Al-Kaidas in unterschiedliche, regional operierende und teils miteinander konkurrierende Gruppen nicht verhindern können. Aus Sicht der Taliban sei er keine sonderlich einflussreiche Person mehr gewesen. Ban hält es sogar für möglich, dass der Aufenthaltsort von Al-Sawahiri aus den Reihen der Taliban an die USA verraten worden sein könnte: "Gewissermaßen als Geste des guten Willens gegenüber den USA", zu denen einige innerhalb der Gruppe möglicherweise die Beziehungen verbessern wollten.

Mit Terror gegen die Zivilbevölkerung will der IS-K die Taliban-Regierung schwächenBild: Ebrahim Noroozi/AP/picture alliance

Mag also Sawahiri für die Taliban entbehrlich geworden sein, so ist die Ideologie von Al Kaida – wie in dem erwähnten Treuschwur formuliert – für die Taliban vielleicht sogar noch wichtiger geworden. Ein Indiz dafür sieht das politische Online-Magazin "The Diplomat" in einem über 300 Seiten starken auf Arabisch verfassten Papier der Taliban mit dem Titel: "Das islamische Emirat und seine Ordnung". Letzteres deutet laut "The Diplomat" darauf hin, dass die Taliban ihre Ideologie, anders als sie es bislang versicherten, nicht auf das afghanische Staatsgebiet begrenzen, also nicht mehr nur als Nationalisten, sondern auch als Dschihadisten gelten wollen. "Die Taliban unterhalten ausgezeichnete Beziehungen zu regionalen terroristischen Vereinigungen, die sie zu ihrem Vorteil nutzen wollen, um ihre Verhandlungsmacht gegenüber den regionalen Staaten weiter auszubauen." Vorgemacht habe eine solche Politik der Iran, der sich außenpolitisch ebenfalls auf nicht-staatliche Akteure wie etwa die Hisbollah im Libanon oder schiitische Milizen im Irak stützt.

Taliban und dschihadistische Strömungen

Nach Jahrzehnten des Krieges und einer langen Zusammenarbeit mit dschihadistischen Kämpfern aus dem Ausland gebe es in Afghanistan eine starke dschihadistische Strömung, heißt es in einer Studie der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) vom Februar dieses Jahres. "Ihr Ziel ist es, den Kampf nach der Machtübernahme in Kabul über Afghanistan hinaus auf die Nachbarstaaten und die gesamte Welt auszuweiten. Die Zahl der afghanischen, pakistanischen und zentralasiatischen Kämpfer in Afghanistan, die sich dem Dschihadismus verpflichtet fühlen, bewegt sich wahrscheinlich im niedrigen fünfstelligen Bereich."

Zu dieser dschihadistischen Strömung müssen sich die Taliban positionieren, insbesondere um sie nicht ihrem erklärten Feind, dem afghanischen Ableger des IS, "IS in Chorasan" (IS-K) zu überlassen. Die Autoren der SWP-Stiftung sehen die Taliban durch die Präsenz dieser dschihadistischen Kräfte in einem Dilemma: Folgten sie nämlich den Appellen aus dem westlichen Ausland und verfolgten eine gemäßigtere Linie, könnten sich radikal dschihadistisch und islamistisch gesinnte Gruppen verstärkt dem IS-K zuwenden und die Stabilität des neuen Regimes gefährden. 

Sirajuddin Haqqani, Innenminister der Taliban, bei der Vereidigung von neuen PolizistenBild: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Folgen die Taliban dagegen einer stärker ideologischen Linie, dürfte es unmöglich sein, Hilfen aus dem Ausland einzuwerben, die wegen der katastrophalen Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan dringend benötigt werden. Die starke Stellung der Haqqani-Fraktion in der Regierung könne jedenfalls als Indiz dafür gesehen werden, dass die Taliban die Dschihadisten aus dem Dunstkreis von Al Kaida einbinden wollen. Auch die amerikanische Carnegie Foundation kommt in einer aktuellen Studie zum Schluss, dass die Verbindungen zwischen den Taliban und Al-Kaida nach wie vor stark seien: Ein Zeichen dafür seien die engen Beziehungen von Innenminister Haqqani zu der Gruppe.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika