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PolitikAfrika

DNA-Abgleich: Tansanier fordern Schädel der Vorfahren zurück

Simone Schlindwein
21. September 2023

Mehr als hundert Jahre lagen alte Schädel in einem Berliner Archiv. Einst als Kriegstrophäen entwendet, konnten sie durch Gentests tansanischen Familien zugeordnet werden – die nun deren Rückgabe verlangen.

Vier Männer mit einem Dokument
Familie Molelia erhält auf dem Workshop von Valence Silayo (r) die DNA-Ergebnisse (09.09.2023)Bild: Konradin Kunze

Dass der Schädel seines Großvaters seit Jahrzehnten in einem Berliner Keller verstaubt, wusste Zablon Kiwelu bisher nicht. Der Tansanier erfuhr davon erst Anfang September 2023 – bei einem Workshop in seinem Heimatland, der am Fuße des gewaltigen Berges Kilimandscharo durchgeführt wurde. Dort bekam er ein Dokument mit dem Briefkopf der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) überreicht. "Ich war so glücklich, dass wir nach über hundert Jahren endlich wissen, wo mein Großvater verblieben ist", sagt er. "Positiv" stand auf dem Dokument. Es bestätigt die Verwandtschaft von Kiwelu mit einem der Schädel, die in der Berliner Charité gelagert werden.

"Akida" steht auf dem Schädel – so wurden die hochrangigen Krieger und Berater des damaligen Anführers des Volkes der Chagga in Tansania genannt. Zablon Kiwelus Großvater, Sindato Kiwelu, war zu Lebzeiten der Berater von Chief Mangi Meli, des Anführers der Chagga am Kilimandscharo, erklärt Enkel Kiwelu. Zusammen mit 18 weiteren Akidas und Chiefs sei er im 19. Jahrhundert von deutschen Truppen erhängt worden.

Führer der Chagga: von deutschen Kolonialtruppen erhängt

Offenbar haben die deutschen Kolonialherren den abgetrennten Schädel von Sindato Kiwelu nach der Exekution nach Berlin verschickt. "Für die deutschen Besatzer waren die Gebeine, vor allem die Schädel, zum einen Kriegstrophäen", erklärt Valence Silayo, Archäologe und Ahnenforscher an der Universität Daressalam. Zum anderen seien die Schädel zur wissenschaftlichen Erforschung mitgenommen worden – meist mit rassistischen Hintergründen. Silayo hat die Suche nach den Verwandten in Tansania sowie den Workshop geleitet und den Familien letztlich auch die DNA-Ergebnisse überreicht.

Die Nachfahren Zablon Kiwelu (l) und Isaria Meli (r) am Denkmal für die Hingerichteten in Old Moshi am Kilimandscharo, TansaniaBild: Konradin Kunze

In einem großen Forschungsprojekt hatten Wissenschaftler des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin gemeinsam mit Kollegen aus Ruanda die Provenienz von rund 1100 menschlichen Schädeln aus der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika untersucht. Dass es mittels DNA-Analyse gelang, zu drei Schädeln lebende Verwandte zu finden, sei "ein kleines Wunder" und vergleichbar mit der berühmten "Stecknadel im Heuhaufen", hatte Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, im DW-Gespräch gesagt.

Neben dem Schädel von Sindato Kiwelu konnten mittels Speichelproben auch zwei weitere Schädel, die in Berlin gelagert werden, zweifelsfrei zugeordnet werden – und zwar der Familie Molelia. Diese lebt in Kibosho, einem Bezirk im ländlichen Distrikt Moshi in der Kilimandscharo-Region. Bei einem der beiden Schädel handelt es sich offenbar um den Nachfahren von Chief Mangi Sina, der zu Kolonialzeiten ein mächtiges Königreich in Kibosho regierte. Nach lang anhaltenden Kriegen besiegte Mangi Sinas Armee die deutschen Schutztruppen im Jahr 1891. In einem weiteren Feldzug 1893 rächten sich die Deutschen dafür: Mangi Sina wurde geschlagen, seine Festung zerstört, seine Kämpfer verhaftet. Der Chief starb nur wenige Jahre später, 1897.

Doch sein Sohn und Thronerbe Molelia war ein stolzer Krieger und griff die Deutschen erneut an, berichtet Ahnenforscher Silayo. Aber er wurde gefangengenommen. "Am 2.März 1900 wurde er von den Deutschen gehängt", weiß der Historiker. Molelias abgetrennten Kopf verschickten sie nach Berlin. Dort liegt er bis heute.

Wunsch nach traditionellem Bestattungsritual

Dass die Chagga ihren damaligen Anführer nicht nach ihren traditionellen Ritualen bestatten konnten, hat für sie bis heute Konsequenzen, weiß Silayo. "Denn die Chagga verfolgen die eiserne Regel, dass alle Angehörigen nur am Kilimandscharo beerdigt werden dürfen, nirgendwo sonst." Wenn die Riten nicht eingehalten und die Toten nicht korrekt beerdigt werden, dann "wandert ihr Geist bis heute weiter umher", erklärt der Archäologe. "Die Chagga erklären sich seither viele Seuchen, wirtschaftliche Misserfolge, Ernteausfälle oder sonstige schlimme Dinge mit diesem Geist, der keine Ruhe findet."

Eindrucksvoll: der Kilimandscharo im Norden TansaniasBild: Finbarr O'Reilly/Reuters

Die Angehörigen fordern deshalb eine möglichst schnelle Rückgabe der menschlichen Überreste nach Tansania. "Für die Deutschen mag es ein symbolischer Akt sein", sagt Silayo. Doch für die Nachfahren in Tansania habe das Ganze eine viel größere Bedeutung. Zwar sei Deutschland heute ein enges Partnerland von Tansania. Die Bundesregierung finanziert zahlreiche Entwicklungsprojekte im Land. Doch die Kolonialgeschichte dürfe deswegen nicht vergessen werden: "Die Deutschen müssen Verantwortung übernehmen und anerkennen, dass das, was sie getan haben, gegen die Menschenrechte verstieß. Dass es nicht richtig war und dass sie sich dafür entschuldigen", stellt Silayo klar. "Und dann werden diese Hilfsprojekte mehr Bedeutung haben."

Museum oder Bestattung?

Er wisse noch nicht genau, was mit den Überresten seines Grovaters geschehen solle, erklärt Enkel Zablon Kiwelu. Das werde die Familie gemeinsam entscheiden, sobald er die Gebeine nach Tansania gebracht habe. Laut Tradition muss für eine rituelle Bestattung der ganze Körper beerdigt werden. "Aber weil es nur der Schädel ist, glaube ich nicht, dass wir ihn begraben können", sagt Kiwelu. "Wir werden ihn in ein Museum stellen, in das Menschen aus der ganzen Welt kommen und die Überreste besichtigen können", schlägt er vor.

Am Kilimandscharo selbst ist die Idee eines Museums, in welchem die Kolonialgeschichte erklärt und die Gebeine ausgestellt werden, bereits diskutiert worden, sagt Joseph Mselle von der Chiefs Union in Tansania, einer Art Verband oder Gewerkschaft aller traditionellen Volksvertreter im Land. Mselle ist heute als Chief für die Region Kilimandscharo zuständig. Im Rahmen eines traditionellen Festes habe er sich 2021 an Tansanias Präsidentin Samia Suluhu Hassan gewandt. Diese hat die Aufgabe dem Ministerium für Tourismus, Sport und Kultur übertragen, das gemeinsam mit dem Außenministerium mit den Rückgabeforderungen an Deutschland betraut wurde. "Der Minister hat versprochen sicherzustellen, dass alle erforderlichen Prozesse eingeleitet werden, um dieses Kapitel der Geschichte abzuschließen", so Mselle.

Das Projekt "Marejesho": eine mobile Pop-Up-Ausstellung zur kolonialen Geschichte des KilimandscharoBild: Konradin Kunze

Jenseits des Dokuments mit den DNA-Testergebnissen und dem SPK-Briefkopf haben die betroffenen Familien in Tansania noch keine Nachricht von der Bundesregierung erhalten. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz betont in ihrer jüngsten Pressemitteilung von Anfang September: "So zeitnah wie möglich werden nun die Angehörigen und die Regierung von Tansania informiert." Von der SPK direkt wurden die Familien allerdings bisher nicht kontaktiert.

"Nach Berlin fliegen und den Schädel nach Hause holen"

Überreicht wurden die Ergebnisse von Konradin Kunze von der Organisation Flinn Works. Gemeinsam mit Berlin Postkolonial e.V. und Old Moshi Cultural Tourism hatte Kunze die Sammlung von Speichelproben in Tansania von 2017 an initiiert – zudem das Projekt "Marejesho", eine mobile Pop-Up-Ausstellung zur kolonialen Geschichte des Kilimandscharo, die in der Region von Dorf zu Dorf reist. Letztlich hat Kunze auch den Workshop jetzt im September organisiert, zusammen mit dem Berliner ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights). Per Videoschalte aus Deutschland hat er den tansanischen Familien die DNA-Ergebnisse erläutert.

Zablon Kiwelu erklärt, er habe inzwischen einen Anwalt eingeschaltet, der sich nun direkt an die deutsche Regierung wenden würde. "Ich will noch in diesem Jahr nach Berlin fliegen und den Schädel nach Hause holen", sagt Kiwelu entschlossen.

Der Schädel eines Opfers des Genozids in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908) während eines Gottesdienstes in Berlin (29.08.2018)Bild: Gregor Fischer/picture alliance/dpa
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