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Politik

Belarussen zur Behandlung in Deutschland

Oleg Parfenok
6. März 2021

In Deutschland werden einige Menschen, die bei den friedlichen Protesten in Belarus Opfer von Polizeigewalt wurden, medizinisch behandelt. Grigorij und Wladimir sind zwei von ihnen - und sie erzählen ihre Geschichte.

Belarus Protest gegen Lukaschenko
Mediziner helfen einem Verletzten während der Protestaktion in Belarus am 9. August 2020Bild: Natalia Fedosenko/TASS/dpa/picture alliance

"Ich wurde in der Nähe des Ortes verletzt, an dem Alexander Tarajkowskij getötet wurde", sagt Grigorij und bemüht sich zu lächeln. Alexander Tarajkowskij war der erste Demonstrant, der in Minsk ums Leben kamund dessen Tod sogar von den Behörden offiziell bestätigt wurde. Es fällt Grigorij schwer zu lächeln, da seine rechte Mundhälfte seit seiner Verletzung weniger beweglich ist als die linke Hälfte. Beinahe, so sagt er mit ironischem Unterton, sei auch er in die Geschichte von Belarus eingegangen.

Es ist ein Wunder, dass Grigorij überhaupt noch scherzen kann, denn nach einem Schädel-Hirn-Trauma lagen seine Überlebenschancen den Ärzten zufolge bei nur 20 Prozent. Aus Sicherheitsgründen möchte Grigorij weder Details über seine Verletzung noch seinen echten Namen preisgeben. Heute ist er in Deutschland und wird in einer Klinik behandelt. Doch was ist Grigorij eigentlich im August 2020 passiert?

Grigorij: "Als wäre ganz Minsk auf der Straße"

An jenem warmen Sommerabend in Minsk ging Grigorij nach der Arbeit zu einer friedlichen Aktion. Die Menschen versammelten sich in der Stadt, um gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen ein Zeichen zu setzen. "Das konnte man gar nicht als Kundgebung bezeichnen, die Leute standen einfach herum. Es waren viele Menschen. Ich hatte das Gefühl, als wäre ganz Minsk auf der Straße. Das Internet wurde abgeschaltet und die Leute kamen aus ihren Häusern.

Es war eine Atmosphäre wie im Stadion bei einem Spiel", sagt der junge Mann. Dann sei die Polizei gekommen, habe begonnen die Demonstranten zu vertreiben und diese seien dann in ein nahe gelegenes Geschäft geflüchtet. Er habe dieses kurz darauf verlassen. Ab dann kann er sich an nichts mehr erinnern. 

Grigorij wachte nach einer Woche im Koma auf einer Intensivstation auf in Minsk. Wegen seiner Verletzungen musste er acht mal operiert werden. Etwa vier Monate lag er im Krankenhaus. Anfangs waren sein rechtes Bein und ein Arm gelähmt. Auch die rechte Gesichtshälfte konnte er nicht bewegen und sprechen konnte er nicht. Dies kann er inzwischen wieder, wobei ihm die Aussprache einiger Wörter schwer fällt. "Wie alt ich bin? Wegen der Aphasie vergesse ich manchmal Zahlen. Ach ja, 29", sagt er schließlich.

Ein Krankenwagen in Minsk, umgeben von Demonstranten am 9. August 2020Bild: Valery Sharifulin/TASS/dpa/picture alliance

Zur Reha nach Deutschland

Der junge Programmierer interessierte sich schon immer für Politik. Doch seine Überzeugungen hat er nie laut geäußert. "Es war das erste Mal, dass ich überhaupt an den Wahlen teilgenommen habe. Ich habe für Swetlana Tichanowskaja gestimmt. Ich wusste, dass die Wahlen manipuliert werden würden, aber ich wollte, dass diejenigen, die die Stimmen auszählen, sehen, wie viele Menschen dagegen sind", betont Grigorij.

Seinen rechten Arm kann er immer noch nicht richtig bewegen. Auf einer Tastatur tippen oder sich die Schuhe zuschnüren kann er auch nicht. Doch er habe Glück insgesamt gehabt, findet er.

"Er ist er selbst geblieben. Als er wieder zu sich kam, bat er um Kopfhörer, ein Tablet und ein E-Book", erinnern sich seine Angehörigen. Sechs Monate nach der Verletzung flog Grigorij zur Reha nach Deutschland. Im Krankenhaus kümmern sich Physio- und Ergotherapeuten um Grigorij, damit er wieder volle Kontrolle über seinen Körper erlangt.

Belarussische Diaspora hilft in Deutschland

Freiwillige aus der belarussischen Diaspora in Deutschland helfen bei der Organisation der Behandlung von Grigorij. Unter ihnen ist die IT-Managerin Elisabeth, die aus Belarus stammt und seit über 20 Jahren in Deutschland lebt. "Nach den Ereignissen im August musste ich wie viele andere einfach etwas tun. Ich konnte weder arbeiten, schlafen, noch essen", sagt sie. "Ich musste immer wieder Nachrichten schauen. Die beste Medizin in einem solchen Zustand ist selber aktiv zu werden." Über Solidaritätskundgebungen mit Belarussen in Deutschland und im Internet lernte Elisabeth Gleichgesinnte kennen. Sie organisierten eine Gruppe, um medizinische Hilfe für verletzte Belarussen zu organisieren.

Elisabeth sagt, anfangs sei ihnen alles sehr schwierig vorgekommen: Aufgrund der COVID-19-Pandemie ist die Einreise nach Deutschland nicht nur für Touristen, sondern auch für Patienten beschränkt. Um ein Visum zu erhalten, ist eine eindeutige Diagnose nötig, die aus der Ferne nur schwer zu stellen ist.

Nach und nach gelang es der Gruppe jedoch, Kontakte - sowohl zu Patienten in Belarus als auch zur deutschen Botschaft in Minsk - herzustellen. Die Diaspora und die Menschenrechtsorganisation Libereco halfen mit, Spenden für Grigorijs Behandlung zu sammeln.

Proteste gegen die Regierung im November 2020Bild: Viktor Tolochko/Sputnik/dpa/picture alliance

25.000 Menschen wurden festgenommen

Das Auswärtige Amt bestätigte der Deutschen Welle, es fördere Maßnahmen zur Behandlung und Regeneration von Opfern staatlicher Gewalt und Folter in Belarus. "Dies umfasst auch entsprechende Verfahren zur Einreise nach Deutschland", so das deutsche Außenministerium.

Der damalige belarussische Innenminister Juri Karajew entschuldigte sich im August 2020 dafür, dass auch nicht an den Demonstrationen beteiligte "Passanten" bei den Polizeieinsätzen verletzt worden seien. Jedoch passiere so etwas bei jedem Einsatz gegen einen kollektiven Verstoß gegen die öffentliche Ordnung.

Laut der Menschenrechtsorganisation Viasna wurden mehr als 25.000 Menschen in der Zeit vom 9. August bis Ende 2020 festgenommen - ein Großteil wurde unter Auflagen wieder freigelassen und erhielten entweder eine Geldstrafe oder eine Haftstrafe von zehn bis 15 Tagen.

Wladimir - "Symbol des Protests in Belarus" 

Ein weiterer Belarusse, der ein Visum zur Behandlung in Deutschland erhielt, ist Wladimir. Auch sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert. Sein Leidensweg begann nach einem Treffen mit Freunden, als er in Minsk auf der Straße auf ein Taxi wartete. Er trug eine Sportjacke mit dem historischen belarussischen Wappen "Pahonja", das heute Symbol des Protests in Belarus ist. Dieses Wappen sollte ihm zum Verhängnis werden. Denn das weiß-rote Wappen steht für die Opposition in Belarus.

Der historische Wappen "Pahonja" ist zum Symbol des Protests in Belarus gewordenBild: Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

"Polizisten, ungefähr sieben Personen, in Helmen und mit Maschinengewehren kamen auf mich zu, ohne mich etwas zu fragen. Ich musste auf die Knie gehen", sagt er. Dann hätten sie ihm den Arm gebrochen und er habe vor Schmerz das Bewusstsein verloren. "Als ich wieder zu mir kam fuhr gerade ein Krankenwagen vor, der mich in eine Klinik brachte. Es stellte sich heraus, dass meine Schulter gebrochen war. Ich wurde operiert und mir wurde eine Platte eingesetzt. Meinen rechten Arm konnte ich zunächst überhaupt nicht bewegen", erzählt er.

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erfuhr Wladimir, dass gegen ihn zwei Verfahren eingeleitet wurden - wegen Rowdytums und Ungehorsams gegen die Staatsgewalt. Er habe es abgelehnt, sich schuldig zu bekennen. Da seine Gerichtstermine verschoben wurden, nutzte Wladimir die Zeit, das Land zu verlassen, da er Repressionen fürchtete. Aber auch aus Sorge um seinen verletzten Arm wollte er raus aus Minsk. Freiwillige von "Razam" - einer Gemeinschaft von in Deutschland lebenden Belarussen - setzen sich für ihn ein. So kam er schnell an ein humanitäres Visum für Deutschland.

"Nicht nur Therapie für Patienten"

Der junge Mann ist immer noch sichtlich schockiert darüber, dass das Wappen auf seiner Jacke Grund für das brutale Vorgehen gegen ihn war. "In dem Moment hatte ich sogar vergessen, dass ich diese Jacke trug. Ich hatte nicht daran gedacht, in was für einem ​​Land ich lebte, dass so etwas solche Aggressionen hervorrufen könnte", sagt er. Wladimir hofft, sein Visum verlängern und die ambulante Behandlung in Deutschland fortsetzen zu können: "Ich bin ein positiver Mensch und habe das Gefühlt, dass mein Arm auf dem Weg der Besserung ist."

Die Freiwilligen in Deutschland hoffen, dass sie nicht nur Grigorij und Wladimir, sondern auch anderen von Polizeigewalt betroffenen Belarussen , helfen können. "Leider ist unsere Hilfe immer noch nötig", sagt Elisabeth und fügt hinzu: "Dies ist nicht nur eine Therapie für unsere Patienten, sondern auch eine für mich persönlich, denn ich merke, dass ich etwas Nützliches tun und Menschen helfen kann."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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