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PolitikEuropa

EU-Migrationspläne ernten viel Kritik

24. September 2020

Kritik, viele Fragen, kaum Zustimmung. Das sind erste Reaktionen auf den "Migrationspakt", den die EU-Kommission gestern vorgeschlagen hat. In Brüssel ging die Diskussion heute heftig weiter. Bernd Riegert berichtet.

Belgien Visegrad-Gruppe Orban Babis von der Leyen
Kritik am Tag danach: Orban (li.) und Babis (re.) bemängeln den Migrationspakt bei EU-Kommissionspräsidentin von der LeyenBild: Francois Lenoir/Reuters

Viele Kommentatoren in europäischen Medien sahen in den umfassenden Vorschlägen der EU-Kommission zum Management der "irregulären" Migration und Asylverfahren einen Punktsieg für die EU-Staaten, die keine Flüchtlinge oder Asylbewerber aufnehmen wollen. Die Tatsache, dass es keinen verbindlichen Verteilungsschlüssel für Asylbewerber auf alle EU-Staaten geben soll, sei doch für die notorischen Verweigerer wie Ungarn, Polen, Tschechien oder auch Österreich ein gute Nachricht, schreibt die ungarische Tageszeitung "Nepszava". Weit gefehlt.

Der ungarische Premierminister Viktor Orban sprach heute, am Tag nach der Vorstellung des "Migrationspaktes", in Brüssel zusammen mit den Kollegen aus Polen und Tschechien bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor. Anschließend sagte der rechtsnationale Orban, der Pakt "ist kein Durchbruch. Es gibt viele Änderungen, aber keinen Durchbruch. Ein Durchbruch wäre, wenn es 'hot spots' außerhalb geben würde, so dass niemand den Boden der EU ohne Erlaubnis betreten kann." Mit 'hot spots' sind Aufnahmelager gemeint, in denen über Asylberechtigung oder Abschiebung entschieden wird. Diese Lager befinden sich in Griechenland und Italien an den Außengrenzen.

Den Plan, diese Zentren auszulagern, hatte die EU im Sommer 2018 befürwortet, aber wieder verworfen, nachdem klar wurde, dass kein Land außerhalb der EU solche Lager einrichten würde und auch schwere europarechtliche Bedenken aufkamen. Viktor Orban warf der EU noch am Montag in einem Zeitungsbeitrag vor, sie wolle die angestammte Bevölkerung durch Migranten "austauschen". Diese krausen "Umvolkungs-Theorien" werden vor allem von Rechtsradikalen verbreitet.

Ungarn und Tschechien mauern

Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis, ebenfalls ein Rechtspopulist, nannte die Migrationspläne der EU-Kommission "Unsinn". Das Prinzip der "verpflichtenden Solidarität", die sich entweder in der Aufnahme von Flüchtlingen oder der Rückschiebung von abgelehnten Asylbewerbern aus Griechenland, Italien, Malta oder Zypern ausdrücken soll, lehnte Babis rundweg ab. "Wenn wir keine Migranten wollen, brauchen wir auch keine abzuschieben." Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban ließ nicht erkennen, dass er den Vorschlag der Kommission für "Abschiebe-Patenschaften" gutheißen könnte. Länder wie Ungarn, die keine Menschen aufnehmen, sollten stattdessen als "Paten" Griechenland und anderen bei Abschiebungen helfen. "Eine Umverteilung und Quoten bleiben erhalten. Einfach einen neuen Namen für Umverteilung und Quoten zu verwenden, reicht nicht aus." Die drei osteuropäischen Regierungschefs vereinbarten mit Ursula von der Leyen weiter zu verhandeln. "Das werden lange Gespräche", meinte Tschechiens Premier Babis.

Österreichs Bundeskanzler will nicht viele Asylbewerber in die EU lassenBild: Joe Klamar/AFP/Getty Images

Der christdemokratische Bundeskanzler von Österreich, Sebastian Kurz, ist von dem Migrationspakt der EU-Kommission ebenfalls nicht begeistert. Der Begriff "Solidarität" sollte im Zusammenhang mit den Asylfragen nicht verwendet werden, sagte Kurz in einen Interview. Die Umverteilung von Flüchtlingen und Asylbewerbern sei zum Scheitern verurteilt. Die EU solle lieber die Außengrenzen besser abriegeln.

Deutschland will vermitteln

Der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte nicht nur die Regierungschefs der östlichen Visegrad-Staaten und Österreichs, sondern alle EU-Verantwortlichen aufgefordert, "nicht gleich reflexartig in Deckung zu gehen". Der Vorschlag der EU-Kommission sei eine "gute Grundlage" für weitere Verhandlungen, sagte Seehofer in Berlin. Bei der Solidarität unter den Mitgliedstaaten, aber sehe er "die Chance, dass es jetzt zu einem Reset kommen kann." Der Innenminister, der derzeit auch Ratsvorsitzender aller EU-Ressortchefs ist, kündigte an, über die Vorschläge bei der nächsten Sitzung aller Innenminister im Oktober sprechen zu wollen. Seehofer deutete an, dass Staaten wie Ungarn oder Österreich, die Solidarität verweigerten, mit finanziellen Nachteilen rechnen müssten.

Demonstration in Berlin am Sonntag: Für die Lager bringt der Migrationspakt keine AbhilfeBild: Jörg Carstensen/dpa/picture-alliance

Italien und Griechenland sehen Chancen

In Italien, also einem der Länder, die durch den neuen Migrationspakt entlastet werden sollen, stieß die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen auf mehr Zustimmung. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter, der Migrationspakt sei "ein wichtiger Schritt in Richtung einer wirklichen europäischen Migrationspolitik". Der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, müssten jetzt Solidarität und Verantwortung verbinden. "Wir brauchen Sicherheit bei der Rückführung und Umverteilung: Die Ankunftsländer können die Ströme nicht allein für Europa managen", schrieb Conte weiter.

Ein griechischer Regierungssprecher machte in Athen deutlich, dass Griechenland weiter auf einer verbindlichen Verteilungsquote für Asylbewerber und Flüchtlinge bestehen werde. Die war aber bislang am Widerstand von Polen, Ungarn, Tschechien und anderen gescheitert, trotz anderslautender Urteile des Europäischen Gerichtshofes.

"Irreguläre" Migranten nicht nur in Griechenland: Hier versuchen Menschen den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien zu überquerenBild: Sameer Al-Doumy/AFP/Getty Images

Das französische Innenministerium teilte heute in Paris, man sehe positive Ansätze. Zugleich besteht Frankreich darauf, dass auch die sogenannte sekundäre Migration, also das Weiterziehen von abgelehnten Asylbewerbern aus Italien oder Griechenland nach Norden unterbunden wird. Deutschland, Spanien und Frankreich sind die Länder mit den höchsten Asylbewerberzahlen in der EU.

Europaparlamentarier sind skeptisch

Im Europäischen Parlament, das neuen Asylgesetzen ebenfalls zustimmen muss, gab es am Donnerstag viele kritische Fragen an die Adresse der EU-Kommissare Margaritis Schinas und Ylva Johansson, die ihre Pläne im Innenausschuss vorstellten. Einige Abgeordnete warfen den Kommissaren vor, sie wollten das faktische Ende des Asylrechts in Europa und neue Lager errichten, die genau so schrecklich sein würden wie Moria. Andere Abgeordnete sahen gute Ansätze, bezweifelten aber, dass sich die Mitgliedstaaten wirklich auf eine "verpflichtende Solidarität" einlassen würden. Der Vorsitzendes des Innenausschusses Juan Fernando Lopez Aguilar erinnerte daran, dass es schon jetzt ein europäisches Asylrecht gebe, an das sich die Mitgliedstaaten aber nicht hielten. "Es gibt eine riesige Lücke zwischen Worten und Taten", so Lopez Aguilar.

Noch viel Überzeugungsarbeit nötig: EU-Kommissare Schinas (Mi.) und Johansson (re.)Bild: Dursun Aydemir/picture-alliance/dpa

Die angesprochene EU-Kommissarin Ylva Johansson bat darum, das Thema Migration weniger zu dramatisieren. "Migration ist etwas ganz Normales in der EU", sagte sie. Im letzten Jahr seien 2,5 Millionen Migranten legal in die EU eingewandert. Nur 143.000 "irreguläre" Einreisen seien registriert worden. Der Streit drehe sich also um ein relativ kleines Problem. Von einer Krise könne derzeit in keinem Mitgliedstaat die Rede sein. Ihr Ziel sei es, Lager wie Moria auf Lesbos, in denen Menschen jahrelang ausharren müssten, zu vermeiden. "Deshalb konzentrieren wir uns auf mehr Abschiebungen", sagte Johansson. Rund zwei Drittel der "irregulär" Einreisenden bekämen kein Asyl und müssten eigentlich ausreisen. In der Praxis geschieht das aber heute kaum. Deutschland hat im ersten Halbjahr gerade einmal 1000 Menschen in außereuropäische Länder zurückgeführt.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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