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Gerechtigkeit für Stalin-Opfer

Aaron, Moskau Tilton
25. November 2016

Wer tötete Stepan Karagodin? Vor fast 80 Jahren starb der russische Bauer. Seither quält die Ungewissheit seine Familie. Jetzt sagt sein Urenkel: Ich weiß wer sein Mörder ist. Aaron Tilton berichtet aus Moskau.

Stepan Ivanovich Karagodin (Foto: privat)
Bild: privat

Ein 34-jähriger Mann aus Tomsk in Zentralrussland will Anzeige gegen den Mann erstatten, der seinen Urgroßvater vor nunmehr fast 80 Jahren exekutiert haben soll. Denis Karagodin hat den Verantwortlichen aufgespürt, der seinen Vorfahren Stepan während der Stalinschen Säuberungen in den 1930er Jahren hingerichtet haben soll. Es ist eine Premiere in einem Land, das immer noch mit den Altlasten der Repressionen unter Stalin ringt.

Stepan Karagodin wurde damals verhaftet, weil er angeblich für die Japaner als Spion in Russland gearbeitet hat. Dann verschwand er im undurchsichtigen Netz des sowjetischen Sicherheitsapparats. Jahrelang lebte seine Familie in Ungewissheit. War er noch am Leben? Wo wurde er gefangen gehalten?

Staatlich angeordnete Tötung oder natürlicher Tod?

Die Recherchen ergaben: Ohne das Wissen seiner Angehörigen wurde Karagodin bereits kurz nach seiner Verhaftung von einem Exekutionskomitee erschossen. Aber erst in den 1950er Jahren informierte ein Sicherheitsbeamter die Familie über sein Schicksal. Die offizielle Information lautete jedoch: Karagodin sei in seiner Gefängniszelle verstorben.

Die privaten Nachforschungen von Denis Karagodin umspannen vier Generationen - nachzulesen auf seinem BlogBild: blog.stepanivanovichkaragodin.org

"Unsere Nachforschungen beginnen am 1. Dezember 1937 (Anm. d. Red.: Der Tag der Verhaftung). Wir sind aus einer guten Familie. Wir unterstützen einander und lassen niemanden hängen", erzählt Karagodins Urenkel Denis der DW.

Aber die Suche sollte lange dauern. Denis verbrachte Jahre damit, über Archivdokumenten zu grübeln. In einer Petition forderte er die Regierung dazu auf, ihm Zugang zu den Aufzeichnungen des damaligen Innenministeriums NKWD zu ermöglichen, einem Vorgänger des ehemaligen russischen Geheimdienstes KGB. Aber seine Suche wurde von der russischen Bürokratie behindert. Gegenüber den Archivaren, erzählt Denis, musste er den wahren Grund seiner Recherche geheim halten. Zu groß war die Sorge, sie könnten ihm sonst den Zugang zu den Dokumenten verwehren.

Die jahrelange Ungewissheit über das Schicksal seines Urgroßvaters war für die Familie wie eine offene Wunde. Heute sagt Denis: Genau aus diesem Schmerz heraus musste er einfach weiterbohren: "Das Leid meiner Familie gab mir Kraft und zwang mich dazu, so präzise wie möglich zu arbeiten, damit niemand meine Nachforschungen anzweifeln konnte. Und ich war erfolgreich."

Der Erfolg kam in Form eines Dokuments: Darauf stand die Anordnung, seinen Urgroßvater Stepan hinzurichten. Außerdem darin enthalten: Die Namen der Männer, die die Tötungen durchführten. Das half Denis dabei, die Befehlskette bis nach Moskau zur NKWD-Führung zurückverfolgen zu können.

Die Stalin-Diktatur wird glorifiziert 

Die Familie Karagodin ist bei weitem nicht die einzige Familie in Russland, die derlei Leid erfahren musste. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa zwölf Millionen Menschen verhaftet wurden infolge der Repressionen, die mit Stalins Machtaufstieg zum Chef der Sowjetunion einhergingen. Aber offizielle Untersuchungen zu den Verbrechen gegen Millionen von Regimekritikern und unschuldigen Opfern, die im Namen der Staatsmacht verfolgt wurden, gab es nie.

Der Kreml blickt zunehmend verklärend auf die Geschichte. Beim Versuch, die russische Selbstwahrnehmung neu zu definieren, wird die Zeit unter Joseph Stalin fast schon beschönigt. Der Diktator wird zwar von vielen als skrupelloser Herrscher angesehen. Aber gleichzeitig wird Stalin zugute gehalten, den Zweiten Weltkrieg gewonnen und somit die Sowjetunion zur Großmacht geformt zu haben.

"Für Russland ist es wichtig, das Bild einer starken Regierung und einer Großmacht auszustrahlen. Und wenn die Leute an Großmacht denken, richtet sich ihr Blick zunehmend auf Stalin als Symbolfigur einer gewaltigen Staatsmacht", sagt Irina Scherbakova von der NGO "International Society Memorial", einer Menschenrechts- und Bildungsorganisation mit Sitz in Moskau.

Und die russische Öffentlichkeit scheint die Neu-Interpretation der Stalin-Ära zunehmend zu akzeptieren. Am Donnerstag (24.11.) hatte der neue Film "Panfilov's 28" in russischen Kinos Premiere. Das Historiendrama erzählt die patriotische Geschichte von 28 Soldaten und ihrem letzten Gefecht gegen das Vorrücken der Nazis auf Moskau im Zweiten Weltkrieg. Der Film basiert auf einem Artikel der Kriegszeitung der Roten Armee.

Aktuell erhält Stalin ein positiveres ImageBild: imago/Russian Look

Historiker kritisieren die Darstellung: Sie sei stark übertrieben und womöglich sogar erfunden. Aber trotz der Kritik konnte der Film in einer Crowdfunding Kampagne etwa eine halbe Million Euro eintreiben. Und jüngste Umfragen zeigen, dass etwa 40 Prozent der Russen der Meinung seien, Stalins Herrschaft brachte "mehr Gutes als Schlechtes" hervor.

Einige Experten fürchten nun, der wachsende positive Blick auf Stalin hindere Familien daran, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Angehörigen herauszufinden.

Gerechtigkeit für die Toten

Denis Karagodin will sicherstellen, dass die Geschichte seines Urgroßvaters Stepan nicht vergessen wird. Posthum möchte er den mutmaßlichen Mörder seines Vorfahren anzeigen. Mord verjährt gemäß der geltenden russischen Gesetzgebung nicht. Denis hofft daher, die Regierung mit rechtlichen Mitteln dazu zwingen zu können, die Rolle der sowjetischen Machthaber im Todesfall Stepan Karagodin öffentlich einzugestehen.

"Die Mörder sollten für ihre Rolle in den Massentötungen verantwortlich gemacht werden - und das werden sie auch. Das ist mein großes Ziel", meint Denis.

Denis Karagodins Beispiel könnte weitere Familien zu Nachforschungen über die Rolle ihrer Vorfahren während der Stalin-Diktatur inspirieren, meint Irina Scherbakova von "International Society Memorial": "Ich bin mir nicht, ob alle die Täter so öffentlich anklagen werden wie Denis", so die Menschenrechtsaktivistin. Aber es werde mehr Menschen geben, die ihre Familiengeschichte ohne Angst vor der Wahrheit aufdecken wollen. Denis sei auf dem richtigen Weg. "Viele Menschen werden seinem Beispiel folgen", ist sich Scherbakova sicher.

 

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