Nagel-Kunst: Zum Tod von Günther Uecker
11. Juni 2025
Nägel. Tausende handelsübliche Nägel. Alle einzeln auf ein mit Leinen bezogenes Holzbrett gehämmert. Manche grade, manche schräg, aber niemals komplett eingeschlagen. Jahr für Jahr fertigte Günther Uecker mindestens eins dieser Nagelreliefs an. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Vor allem diese Nagelbilder sind es, die Günther Uecker so bekannt gemacht haben - in Deutschland und auch international.
Nicht nur in Leinwände hat Uecker die Metallstifte getrieben, sondern auch in Nähmaschinen, Stühle, Schallplattenspieler oder Konzertflügel. Kaum ein anderer Künstler hat sein Werk so sehr dem Handwerk und der einfachen, körperlichen Arbeit gewidmet wie Günther Uecker.
Er war "Bildhauer" im wahrsten Sinne des Wortes. Er haute mit Wucht und Präzision Nägel in Bilder und Objekte und schaffte dadurch Reliefs - er selbst nannte sie Nagelfelder - die erst im Spiel mit Licht und Schatten ihre volle Wirkung erzielen.
Lebensgeschichte: Krieg und Frieden
Günther Uecker wurde am 13. März 1930 im Wendorf bei Schwerin geboren. Mit 15 Jahren, kurz vor Kriegsende, vernagelte er Fenster und Türen des Hauses mit Holzbrettern, um seine Mutter und seine Schwester vor der herannahenden russischen Armee zu beschützen. Von da an zogen sich Nägel wie ein roter Faden durch das Schaffen des Künstlers.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb er zunächst in der DDR und studierte von 1949 bis 1953 Malerei und Bildende Kunst in Wismar. 1955 flüchtete er nach West-Berlin und landete schließlich in Düsseldorf, wo er von 1955 bis 1957 an der Kunstakademie bei Professor Otto Pankok studierte.
Während des Studiums lernte er die Künstler Heinz Mackund Otto Piene kennen. Deren Künstlergruppe ZERO schloß er sich 1961 an. Gemeinsam setzten sie programmatisch die Zeit auf Null - die "Stunde Null", mit der sie nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang machen wollten.
Zeitlose Kunst, genagelt und gemalt
Die avantgardistische Künstlergruppe wirkte weit über Deutschland und über ihre Zeit hinaus. Mit dem neuen Jahrtausend stießen die Ideen von ZERO wieder vermehrt auf Interesse in der Kunstwelt: Seitdem findet eine Renaissance der Avantgarde-Gruppe statt. Seit 2004 gibt es regelmäßig auf der ganzen Welt große Zero-Retrospektiven.
Der Martin-Gropius-Bau in Berlin widmete der Künstlergruppe ZERO im März 2015 eine große Ausstellung. 1966 ahnte niemand diesen zukünftigen Erfolg bis ins 21. Jahrhundert hinein: Die Gruppe ZERO löste sich nach kurzer Zeit wieder auf.
In über 60 Ländern hat Günther Uecker ausgestellt, in vielen dieser Länder leistete er mit seiner abstrakten Kunst Pionierarbeit. 2012 stellte Uecker als erster westlicher Künstler nach der iranischen Revolution in Teheran aus. 2007 hatte er seine Objekte bereits in China gezeigt.
Die Ausstellung in Peking war ursprünglich für 1994 geplant gewesen. Uecker wurde damals von der chinesischen Regierung zu einer Ausstellung in Peking eingeladen und hatte dafür die Konzept-Arbeit "Brief an Peking" (s. Foto unten) angefertigt.
Auf 19 großen, frei im Raum hängenden Leinentüchern stand die Menschenrechtserklärung der UN, zum Teil mit schwarzer Farbe überarbeitet und unkenntlich gemacht. Die Schau wurde daraufhin kurzfristig vom chinesischen Kulturministerium abgesagt. Das Volk sei noch nicht bereit für seine Kunst, so die Begründung damals. 18 Jahre später durfte er dann in China ausstellen.
Humanistische Künstlerideale
Der "Brief an Peking" ist nicht das einzige Werk, in dem sich Uecker konkret mit humanitären Missständen auseinandersetzte. Ein künstlerischer Appell gegen die Verletzung der Menschenrechte war auch die Arbeit "Verletzungsworte": Sie versammelte 60 Wörter, die von physischen und psychischen Wunden erzählen.
Die Kunst von Günther Uecker wird auf der ganzen Welt und in den unterschiedlichsten Kulturen verstanden - und geschätzt. Auf die Frage, was sie so universal macht, hatte Uecker seinen eigenen Erklärungsansatz: "Was man mir oft sagt, ist, dass der humane Charakter, der in meinem Werk erkennbar wird, die Menschen berührt."
Wiedersehen mit einer wichtigen Arbeit
Am 6. Juni 1962 starb sein Künstlerkollege Yves Klein mit nur 34 Jahren an einem Herzinfarkt. Der französische Künstler war nicht nur ein Freund, sondern auch der Schwager von Günther Uecker. Nachdem er in Paris Totenwache für Yves Klein gehalten hatte, schuf er ein Nagelrelief für den Avantgardekünstler, der vor allem durch sein "Yves Klein-Blau" und seine monochromen Arbeiten berühmt geworden ist.
Ueckers Hommage: eine weiße Leinwand, mit wenigen roten Farbpigmenten grundiert, in die sparsam Nägel gesetzt sind. Anders als seine sonstigen Reliefarbeiten ist es heller, hat weniger Nägel, die konzentriert in der Mitte gesetzt sind.
Erst 50 Jahre später, beim Aufbau der großen Uecker-Schau 2015 in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf, hat der Künstler diese Arbeit, die damals ein privater Sammler gekauft hatte, zum ersten Mal wiedergesehen. Ein Geschenk zu seinem damaligen 85. Geburtstag.
Uecker war stolz, dass sein Werk so zeitlos und aktuell geblieben ist: "Die Bilder haben von mir so weit Abstand genommen, dass ich sie unbefangen betrachten kann, wie der Besucher einer Ausstellung."
Tiefenbohrung durch ein vielschichtiges Werk
Seiner mecklenburgischen Heimat blieb Uecker immer eng verbunden. Noch in hohem Alter gestaltete er vier große blaue Glasfenster für den Schweriner Dom, die im Dezember 2024 eingeweiht wurden.
Am Dienstag, den 10. Juni 2025, ist Günther Uecker in Düsseldorf gestorben - in der Stadt, die bis zuletzt das Zentrum seines Schaffens war. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) würdigte ihn als "einen der wichtigsten und einflussreichsten Künstler der deutschen Nachkriegsgeschichte".
Sein Nachlass ist in professionellen Händen: Für das Forschungsprojekt "Werksverzeichnis Günther Uecker" wurden alle seine Arbeiten und Schriften systematisch geordnet und erfasst. Der Künstler war über diese kunsthistorische "Tiefenbohrung" hoch erfreut. Sein letztes eigenes Werkverzeichnis stammte aus den 1980er Jahren.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels zu seinem 90. Geburtstag.